Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)
wenn er sie jetzt so sähe? Sie wusste es nicht, aber ihr war klar, dass sie so etwas mit Dan niemals unternehmen würde. Dieser Gedanke machte sie traurig. Doch bereits im nächsten Augenblick spürte sie Erleichterung.
»Cari.« Marco berührte ihr Gesicht, legte den Daumen mit sanftem Druck gegen ihre Wange.
Begehren loderte in ihr auf. »Wir sollten uns besser wieder umziehen«, flüsterte sie.
Er zog sie bei den Schultern zu sich heran und küsste sie – zuerst ganz zart, dann zunehmend inniger. Fest nahm er sie in die Arme, ohne sich um den Ladeninhaber zu kümmern, der sich hastig zurückzog – er witterte wohl ein Geschäft.
Cari gab sich ganz und gar dem Kuss hin. Es war der Kuss eines Liebenden, und sie reagierte wie eine Liebende. All ihre Sinne waren geweckt. Sie glaubte zu fallen, versank in seinem Geruch, sie schmeckte Marco, spürte die Wärme seiner Arme, die Berührungen seiner Zunge.
Schließlich befreite sie sich mit Mühe aus seiner Umarmung, obwohl ihr ganzer Körper nach mehr verlangte. Sie holte tief Luft. »Marco, wie lange wirst du in England bleiben?«, fragte sie mit gespielt neckischer Stimme. Denn es war ja nur ein Kuss … oder?
»Kommt darauf an.« Seine Miene verfinsterte sich. Sie wurde nicht schlau daraus. Las sie so etwas wie Angst in seinem Blick?
»Ich mag dich, Cari«, sagte er. »Ich mag dich sehr.«
Sie hörte das »aber« in seiner Stimme und wartete.
»Aber es ist kompliziert.«
Sie hatte gewusst, dass es jemanden oder ein Hindernis gab … Sie hatte es gewusst und wollte es doch nicht wissen. Sie legte ihm den Finger auf die Lippen. »Es spielt keine Rolle«, erwiderte sie. Es war doch nur ein Kuss.
Er hatte seine Hände um ihr Gesicht gelegt. »Oh, doch, es spielt eine Rolle.«
So wollte sie ihn immer in Erinnerung behalten: wie er ihr Gesicht in den Händen hielt, die dunklen Augen so nahe und doch so weit entfernt. Woanders.
»Ist es zu früh für uns?«, murmelte er. Als würde er laut denken.
Er hatte Recht. Es gab so viele Dinge zu erledigen, Geheimnisse aufzudecken. Zunächst musste sie die Sache mit Dan regeln. Und außerdem hatte Cari einen Plan, den sie für niemanden aufschieben wollte. Er bestimmte momentan ihr Leben und gab ihr die Richtung vor.
Dennoch lastete die Enttäuschung schwer auf ihr, als sie den Vorhang der Umkleidekabine zurückzog. Sie wollte das rote Kleid nicht ausziehen. Und sie wollte nicht verlieren, was sie noch gar nicht besaß. Marco …
K
apitel 19
Lässt sich so etwas nachempfinden? Hilflos zuzusehen, wie jemand einfach … untergeht? Der nicht einmal einen Rest Freude verspürt, zutiefst trübsinnig wird? Wie soll ich das ertragen?
Um wie viel besser wäre es, der Tod träte plötzlich ein wie bei einem Herzinfarkt oder als Folge ihres Abschieds. Ein gezielter Tritt in die empfindlichen Körperteile. Oh! Ein scharfer Schmerz. Ein Tritt, der einem den Atem verschlägt, einem keinen weiteren Schritt mehr erlaubt … den man nur ganz selten verkraften muss. Gott sei Dank. Sonst wären wir alle Krüppel.
Nichts erscheint einem schlimmer als solch eine Qual. Langsam unterzugehen kann kaum schrecklicher sein. Ist es aber. Zwei Schritte vor, drei zurück, einer vor, zwei zurück, kurze Pause, Rückfall. Und weiter geht’s. Bei uns ja, bei ihm nicht.
Am schlimmsten daran ist das Gefühl, völlig hilflos zu sein. Ich kann ihm nicht helfen. Denn so sehr er mich auch liebt, ich kann nichts dafür, dass er sinkt. Er hat alles verloren. Alles, was seinem Leben den Sinn gegeben hat. Er hat es versäumt, sich eine Reserve zu schaffen … Ich bin diese Reserve nicht, oder? Ich verleihe seinem Leben doch keinen Sinn.
Ich versuche ihn hochzuziehen, aber er ist groß und viel zu schwer. Ich knie mich neben ihn, bin an seiner Seite, doch er spürt nichts mehr, kann mich nicht mehr wahrnehmen. Und jedes Mal frage ich mich, ob ich noch die Kraft besitze, mich selbst aufzurichten.
Wenn er mir etwas von seiner Bürde anvertrauen würde, könnte ich sie ihm abnehmen, keine Frage. Ich bin jung. Ich bin stark. Es gibt Tage, da habe ich das Gefühl, ich könnte es mit der ganzen Welt aufnehmen. Aber während sie ihm nach und nach von den Schultern gleitet und ich sie fassen möchte, nimmt sie ihn erneut gefangen. Er ist ein Gejagter. Alles wird schwerer. Jetzt sind wir wohl beide auf dem Weg abwärts, oder? Wir steigen auf der dunklen Leiter hinab in die Tiefe.
Nein, ich nicht. Weder für ihn, meinen Vater, noch für sie. Ich muss mich um
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