Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)
jemand anderen kümmern, richtig? Um etwas, was in mir wächst und keine Mutter verdient, die sich nur für andere aufopfert. Dieses Etwas braucht eine Mutter, die ihre Kraft bewahrt und es stärkt. Ich schaffe es. Wir werden ohne Familie auskommen. Ich brauche das Kind, und das Kind braucht mich. Es ist ein Vertrag. Ich möchte ihm keinen Schaden zufügen; es wird mich retten.
Ich versuche ihm etwas davon zu vermitteln. Ob es ihm hilft? Ehrlich gesagt ist es doch einerlei, wie oder warum ich es empfangen habe. Es zählt einzig und allein, dass es die Reise angetreten hat und auf seinem Weg meine Unterstützung benötigt.
Doch er kann nicht zuhören, kann es nicht mehr aufnehmen. Für ihn ist es nur ein weiteres Etwas aus einer völlig anderen Welt als der, in der er lebt. Es ist nichts.
Unsterblichkeit war sein Motiv, seine Liebe, sein Traum, der Gott, an den er immer hatte glauben wollen. Der Ruhm ist die Stimme, die ihm zuflüstert, er sei großartig, die Stimme, die ihm gestattet zu vergessen. Die ihn schlummern lässt, als ruhe er in tiefem Schnee. Und wir alle wissen ja, was geschieht, wenn wir uns in tiefen Schnee legen. Es ist himmlisch beruhigend, bringt uns aber den Tod.
Doch was ist er ohne diese Stimme? Ein gescheiterter Mensch. Der Mann, den ich abgöttisch liebe. Mein Vater. Meine Liebe.
Cari schlug das Tagebuch zu und blickte über den Palace Pier hinweg auf das Meer. Sie hatte sich zwischen zwei Terminen eine Mittagspause gegönnt, doch ihr Sandwich lag unangetastet neben ihr auf der Bank. Da sie ohne Vater aufgewachsen war, war sie sich nicht sicher, ob sie die Zuneigung einer Tochter zu ihrem Vater tatsächlich begriff. Dabei hatte sie gemeint, es sei ihr möglich; sie stellte es sich unkompliziert vor, basierend auf Vertrauen, Kameradschaft und Achtung. Doch Tasmins Zuneigung für ihren Vater war offenbar anderer Art gewesen. Sie war sowohl stärker als auch geringer. Die Worte ihrer Mutter schienen ihr hintergründig und mit Bedeutungen unterlegt, die Cari nicht zu verstehen wagte.
Auch dieser Maitag war sommerlich warm. Silbrig funkelte das ruhige Meer unter einer hoch am Himmel vorüberziehenden blassen Wolke, während die zarten, wie mit Spitze gesäumten Wellen flüsternd auf den Strand zuglitten. Anders als sonst wehte auf dem Pier kaum ein Lüftchen. Cari sog die Wärme der staubigen Holzbohlen und den Duft nach Salz und Meer ein. Ein Duft, der sich mit dem Aroma von Zuckerwatte, kandierten Äpfeln, dem leicht sauren Geruch nach Garnelen, Herzmuscheln und intensivem, von den Buden hinter ihr herüberwehenden Wohlgeruch gerösteten Kaffees mischte. Diese unerwartete Attacke auf all ihre Sinne erinnerte Cari an Marco, und erneut lief ein Schauder des Verlangens durch ihren Körper. Was, so überlegte sie, hätte Tasmin getan, wenn es sie, die noch ungeborene Cari, nicht gegeben hätte? Hätte sie die Hand ihres Vaters gehalten und wäre in die Dunkelheit gesprungen, von der sie gesprochen hatte?
Schließlich biss sie in ihr Sandwich. Es schmeckte alt, obwohl sie es erst vor dreieinhalb Stunden zubereitet hatte. Sie warf es ins Meer und beobachtete, wie die Möwen kreischend herabglitten und sich ihren Teil nahmen. Ich sollte so etwas eigentlich nicht tun, wies sie sich zurecht. Die Möwen hatten längst verlernt, dass sie sich ihre Mahlzeiten aus dem Meer holen sollten, und plünderten stattdessen die Abfalltonnen. Cari beobachtete die Vögel bei ihrem Kampf um das Brot. Tasmin hatte gekämpft, nicht wahr? Sie hatte sich stark genug gefühlt, um es mit der Welt aufzunehmen. Cari durchströmte eine Welle des Stolzes. Bis die Welt sie ihr entrissen hatte.
Beim Gedanken an ihre Mutter war es Cari wieder, als schnüre ihr jemand die Kehle zu. Diese Empfindung regte sich zu den eigenartigsten Tag- und Nachtzeiten; nicht nur, wenn sie in Tasmins Tagebuch las, sondern zuweilen auch aus heiterem Himmel, ohne ersichtlichen Anlass – ein Gefühl, das weder mit dem Verlust der Mutter zu tun hatte noch mit der Tatsache, dass sie sich mit deren Tod nicht abfinden konnte.
Ob Aurelia ahnte, was sie zurückgelassen hatte? Ob sie wusste, was aus ihrem Mann und ihrer Tochter geworden war? Interessierte es sie? Dorrie hatte einen Brief an Tasmin erwähnt. Briefe zu schreiben war ja auch einfach. Weshalb hatte Aurelia ihre Familie nie besucht? Weshalb hatte jemand, der als tapfere, zähe kleine Person galt, so schnell aufgegeben?
Cari stand auf. Es war Zeit, in den Laden zurückzukehren. Die nächste
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