Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)
seltsam erschien, dass sie – nach all den Jahren – danach fragte.
Elena setzte das Glas ab. »Natürlich waren sie glücklich«, sagte sie rasch und hastete wieder davon. »Mmm, wo habe ich denn nur mein Handy hingelegt?« Aurelia sollte ihre Augen nicht sehen.
Als sie zurückkam, beugte sich Aurelia vor und legte die Hand auf ihren Arm. »Wirklich? Waren sie wirklich während ihrer gesamten Ehe glücklich?«
Einen Augenblick lang glaubte sie, etwas wie Angst in Elenas hagerem Gesicht zu erkennen. Angst? Doch wovor?
»Ja, natürlich.« Sie schob Aurelias Hand fort. »Nun sag schon, was ist los? Was bedrückt dich?«
Aurelia konnte es nicht benennen. Ob Enrico ein Mörder ist oder nicht, wäre wohl kaum eine gute Antwort gewesen, abgesehen davon, dass sie davon nicht eine Sekunde lang überzeugt gewesen war. Es schien wohl eher ein Zufall zu sein, dass Catarina wenige Wochen vor dem Tod eine Angst zum Ausdruck gebracht hatte, die sich später bewahrheitete. Was sonst? Aurelia atmete tief durch, um zurück zu ihrer Ruhe zu finden, die sie derzeit so oft verlor. Das Alter, vermutete sie. Hin und wieder konnte sie kaum Atem holen, und ihre Lungen schmerzten. Vielleicht war sie ja doch zu lange gegen den Strom geschwommen. Sollte sie vielleicht ein wenig kürzertreten?
»Ich weiß es nicht«, bekannte sie. Dass Enrico Catarina betrogen haben könnte, war eine der unausgesprochenen Befürchtungen, die sie umtrieben. Sie versuchte, alles vernünftig zu betrachten. Selbst wenn es so gewesen wäre, hatte das dann wirklich Auswirkungen auf ihre eigene Stellung? Schließlich lag alles so weit zurück, und sie liebte Enrico nicht einmal. Sie schätzte ihn als Freund, ja, und natürlich als einen Menschen, dessen Leben sie teilte, aber nicht als Liebhaber; jedenfalls empfand sie nicht diese alles verzehrende Eifersucht, die sie jahrelang für Richard empfunden hatte, während er sie betrogen hatte. Und das beinahe täglich. Womöglich das Einzige, dessen sie sich sicher sein konnte.
Aurelia lehnte sich wieder zurück. Dieser Mistkerl! Die Sonne war inzwischen weitergewandert, und ein Sonnenstrahl fiel durch eine Weinranke auf ihre mit Leberflecken übersäte, faltige Rechte, die Hand, mit der sie malte – vielleicht sogar ihr wichtigster Körperteil.
Aurelia zog sie fort. Gehörte Unaufrichtigkeit zum Erfolg? Unsicherheit gehörte gewiss dazu. Ebenso wie Unsicherheit mit dem Wunsch einherging, Bewunderung, Verehrung und Liebe zu erfahren.
Die wärmende Nachmittagssonne machte sie schläfrig. Ihre Gedanken führten sie wie so oft in diesen Tagen zurück in die Vergangenheit, nach Brighton, zu Richard. Je öfter Richard eine bestimmte Rolle nicht bekam – Stanley ist ein Feigling. Er befürchtet, dass ich den Hauptdarsteller in den Schatten stelle; verlangt nach jemand Älterem/Jüngerem/Hässlicherem; hat eine Affäre mit der Frau/Schwester/Mutter von irgendjemandem; man hat ihn bestochen/ihm geschmeichelt/ihn überredet/erpresst –, je mehr er litt, desto unsicherer wurde er. Und je unsicherer er wurde, desto brutaler musste er sein Ego stärken (durch Frauen – egal welche). Je öfter er den starken Mann markierte, desto öfter trank er.
Und umso tiefer sank er, fügte Aurelia insgeheim hinzu. Sobald sie den Kopf wandte, konnte sie über Elenas Zitronen- und Orangenbäume hinweg das friedliche Blau des Golfo dei Poeti sehen. Gegen den Strom schwimmen … Es wurde zunehmend schwieriger, gute Rollen zu bekommen. Und kaum bot sich ihm eine Chance, vermasselte er sie: zu viel Whisky, zu viele Frauen, um sich an seinen Text zu erinnern. Er war so sehr damit beschäftigt, seine Frau zu betrügen, dass er keine andere Rolle auch nur halb so gut spielen konnte.
Aurelia fiel wieder ein, was sie zu tun hatte, und sie bemühte sich, die Aufmerksamkeit erneut auf die Speisekarten zu richten. Aber es bereitete ihr Schwierigkeiten. Der Wohlgeruch der Zitrusfrüchte verlieh den Düften in Elenas Garten eine intensivere Note – die wohlriechenden Geranien und Petunien in den Terrakottakübeln auf den bröckelnden Steinmauern und in den Töpfen vor dem Gewächshaus, in dem die Zitronenbäume überwinterten. Nur Tasmin konnte ihm helfen. Die Rolle des großzügigen Vaters war seine Rettung. Stundenlang spielten sie ihr Lieblingsspiel. Anfangs sah sie ihnen zärtlich zu, später nicht mehr. Stundenlang gab Richard sich dieser Zuneigung hin, die geradezu der Anbetung gleichkam. Er hätte sich nichts Besseres wünschen können
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