Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)
Tür stand.« Sie kicherte.
Cari ließ ihrer Phantasie freien Lauf. Eine wilde Frau …
»Was denn genau?« Marco löste den Blick von den Auslagen im Esoterikshop: Tarotkarten unterschiedlichster Stilrichtungen – präraffaelitisch, Art déco, märchenhaft, modern –, Bücher über Astrologie und Hexerei, Kristalle, Kerzen und bunte Glaslampen. Als jemand das Geschäft verließ, schlug ihnen der Duft von Räucherstäbchen entgegen. Zitronengras und Lavendel.
Aus irgendeinem Grund beschloss Cari, Marco nichts von Hester zu erzählen. »Mary – meine Urgroßmutter – war sehr unglücklich«, begann sie. »Dorrie hat es nicht direkt gesagt, weil sie viel zu loyal ist, aber mein Urgroßvater Hugh scheint ein übler Typ gewesen zu sein.« Mary hatte ihn vermutlich einmal geliebt – warum hätte sie ihn sonst geheiratet? Aber vielleicht war diese Liebe gestorben. Oder Hugh hatte sie irgendwie zerstört. »Er muss ein ziemlich dominanter Mann gewesen sein«, sagte sie. »Ein absoluter Kontrollfreak, selbst für die damalige Zeit.« Er hatte nur zu gern Macht über andere ausgeübt, davon war sie überzeugt.
Marco zog eine Augenbraue hoch. Wahrscheinlich ist das für ihn feministisches Geschwätz, dachte Cari. »Aber um fair zu sein, muss ich sagen, dass Mary meistens krank war«, fügte sie hinzu, »also war es bestimmt für niemanden leicht.« Vor allem nicht für Aurelia.
Vielleicht lag es an dem Foto, das sie gefunden hatte, oder daran, dass ihre Großmutter als einzige ihrer weiblichen Vorfahren – wenn man Dorrie glauben konnte – noch lebte, jedenfalls fühlte Cari sich ihr sehr nahe. Außerdem waren sie beide ohne Geschwister aufgewachsen und hatten sich mit sich selbst beschäftigen müssen. Beide waren sie einsam gewesen und hatten unter dem Gefühl der Isolation gelitten, das Kindern aus großen Familien fremd ist.
Aber immerhin hat Aurelia ihre Großmutter gekannt, dachte Cari. Hester, die wilde Frau.
Während sie an den Kensington Gardens entlangschlenderten, musste sie unwillkürlich lächeln. Sie kamen an Cafés vorbei, deren Stühle und Tische wie im sonnigen Süden auf dem Gehsteig standen, an noch mehr Marktständen mit Silberschmuck, Geldbörsen, Bandanas und Sarongs und schließlich an einem Geschäft, das Kattun, Musselin und auch Stoffe für Hochzeitskleider verkaufte, wo Cari sich immer eindeckte.
Vom anderen Ende der Straße kam ihnen ein Schneewittchen auf Stelzen entgegen, begleitet von den sieben Todsünden, wie auf einem Plakat zu lesen war. Cari sah sich einen von Schneewittchens Begleitern näher an. Wen oder was sollte wohl das helle Gelb symbolisieren? Ihre Gedanken wanderten zurück zu Hester. Aurelia und Hester mussten sich sehr nahegestanden haben, wenn Hester den weiten Weg von Cornwall nach Hertfordshire auf sich genommen hatte, um ihre Enkelin zum Geburtstag zu besuchen.
»Ich durfte Hester nicht ins Haus lassen.« Dorrie hatte bei diesen Worten traurig ausgesehen. »Dafür konnte ich meine Stellung nicht aufs Spiel setzen.«
»Aber warum denn nicht?«, fragte Cari erstaunt. Hester war Aurelias Großmutter, Marys Mutter. Weshalb um alles in der Welt sollte sie das Haus nicht betreten dürfen, nachdem sie doch extra zu Aurelias Geburtstag den weiten Weg nach Hertfordshire zurückgelegt hatte?
»Ich weiß es nicht, meine Liebe.« Dorries wirkte ebenso verwirrt wie Cari. »Ich hatte meine Anordnungen und musste tun, was mir gesagt wurde. Ich habe nie erfahren, was zwischen ihnen vorgefallen war.«
»Und Mary?« Hatte sie denn ihre eigene Mutter nicht sehen wollen? Oder hatte sie zu viel Angst vor ihrem Mann gehabt, um gegen ihn aufzubegehren? Cari stellte den Teller mit Rosenmuster auf Dorries Teewagen zurück.
Dorrie seufzte. »Die Frauen damals haben längst nicht so viele Freiheiten besessen wie die jungen Frauen heutzutage, meine Liebe. Es ist sicher schwer für Sie, sich das vorzustellen.«
Das stimmte. »Demnach hat Aurelia ihre Großmutter gar nicht mehr gesehen?«, fragte Cari betrübt. Sollte Hesters Reise völlig umsonst gewesen sein?
Dorrie kicherte. »Ich habe nicht gegen die Anweisungen verstoßen«, sagte sie mit triumphierendem Glitzern in den hellen Augen. »Die Kleine hat sich im Garten mit ihr getroffen. Dazu konnte ich nicht Nein sagen. Es wäre nicht recht gewesen.«
»Das haben Sie gut gemacht.« Cari stand auf und griff nach der Teekanne aus zartem Porzellan, um die Tassen nachzufüllen. »Und wie war Aurelias Verhältnis zu ihrem Vater?«,
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