Das Erbe der Uraniden
traumlosem Schlaf. Die Ruhe wird ihn erfrischen und erstarken lassen, daß er weiterlebt… bis der Tag des Gerichtes gekommen.«
Er beugte sich über ihn. Die Hohlnadel drang in Cannings Arm.
»In drei Stunden wird er erwachen. Körperlich frisch, sein Geist erstarkt. Doch unauslöschlich darin die Erinnerung an das, was er hier gesehen hat.«
Noch stand er, den Blick auf den am Boden Liegenden gerichtet, da riß ihn ein Schrei auf…
Awaloff, der bisher den Vorgängen mit den irren Augen des unheilbar Kranken folgte, war plötzlich wie leblos zu Boden gesunken. Noch ehe Stamford bei ihm war, kam Majadevi zu ihm geeilt. Sie kniete neben ihm, hob sein Haupt empor, legte es in ihren Schoß und streichelte leise weinend die starren Züge.
Ihre Augen gingen ängstlich zu Stamford.
»Ist er tot, der Gute? Er liebte mich so sehr. Helfen Sie ihm, retten Sie ihn!«
Sekundenlang ging Stamfords Blick zwischen dem Gesicht des Mädchens und dem des Mannes. Er kniete nieder, öffnete mit leisem Zwang die Lippen Awaloffs und flößte ihm ein paar Tropfen aus einer kleinen Phiole ein.
Bald schlug er die Augen auf. Sein erster Blick traf das Mädchen. Er schaute in ihre Augen. Stamford betrachtete sie mit ängstlicher Spannung.
Awaloff wandte die Blicke nicht von dem Mädchen. Es war, als tränken sich seine Augen satt an ihrem Anblick.
»Majadevi nennen sie dich…«, flüsterte er leise vor sich hin. »Du bist Majadevi… wüßte ich’s nicht, würde ich dich jetzt anders nennen, einen anderen Namen… Wie lange ist’s her, daß ich ihn rief… Den Namen meines Kindes… Maria… Maria… So rief ich sie, daß sie jubelnd in meine Arme eilte, ihre Arme um mich schlang, mich küßte… Mein großes, liebes Väterchen nannte sie mich und streichelte mein Gesicht, wie du es tust…«
Seine Augen, plötzlich wie in bangem Erschrecken, füllten sich mit Tränen.
»Maria! Maria!« rief er laut. Sie zuckte zusammen, wie aus tiefstem Schlaf erweckt. Der Ton von unendlicher Liebe und Zärtlichkeit drang in tiefste Herzenskammern. Ihre Hände hoben sich ausgebreitet in die Luft. Ihr Blick war erwartungsvoll in die Ferne gerichtet.
Noch einmal: »Maria! Maria!«
Da schlug sie die Hände um seinen Hals.
»Väterchen! Väterchen!«
Keiner der anderen wagte sich zu rühren, das ergreifende Bild eines solchen Wiederfindens zu stören. Stamford hatte die Augen geschlossen. Um seinen Mund zuckte es. So ähnlich war das Bild, das ihm traumhaft so oft erschienen, wenn er das sonderbare, vom ersten Tage an fast innige Verhältnis zwischen den beiden betrachtete.
Die Enthüllungen, die ihm Sarata in der Trance gezwungen gemacht hatte, schlossen die Kette… Majadevi, bewußtlos in den Armen der toten Mutter gefunden, ein schlimmes Schicksal hatte sie dem Inder in die Hände gespielt…
Awaloff… Gorm… auch deren Schicksal verflochten.
Der eine mußte arbeiten an dem Verderben des anderen… dann mußte er ihn retten vor dem Stahl des Inders. Gorm befreite Awaloffs Blut aus des Inders Händen… Karma!
*
Durch wilden Wald, über baumlose Fluren, über Hügel, durch Täler rast ein Mann. Kein Hindernis hemmt seinen wilden Lauf. Die Kleider zerrissen von dornigem Gestrüpp, die Haare wirr um das bleiche Gesicht flatternd. Immer wieder wollen die Füße, die Lunge den Dienst versagen. Doch er peitscht sie mit äußerster Willenskraft zu erneuter Anstrengung. Die wilden Tiere fliehen bei seinem Herannahen erschreckt zur Seite…
Jetzt stürmt er eine Höhe hinab. Ein dunkles Tal tut sich vor ihm auf. In seinem wüsten Gehirn leuchtet der Gedanke des Geborgenseins auf. Er will den Schritt verlangsamen… da stolpert er, stürzt. Er liegt einen Augenblick tief atmend in dem Schatten eines Baumes, über dessen Wurzeln er fiel. Er will sich wieder aufraffen, erheben… und sinkt mit einem Schmerzenslaut zusammen. Der eine Fuß versagt den Dienst. Mit angstvoll geöffneten Augen betastet er das Glied… Ist der Fuß gebrochen? Oder nur verrenkt? Doch einerlei… der Schmerz ist so groß… unmöglich auch bei stärkster Selbstüberwindung, den Fuß zu gebrauchen…
Seine Augen gehen suchend in die Runde. Einen Stock, einen Ast, aus dem er eine Krücke brechen könnte. Er kann, darf hier nicht bleiben, er muß weiter. Wer weiß, ob sie nicht hinter ihm her sind, die Gespenster… Mit furchtsamen, angstvollen Augen sieht er sich um. Doch vergeblich sucht er einen Stock.
Noch einmal versucht er mit letzter Willensanstrengung, sich zu
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