Das Erbe der Vryhh
zu schützen, das sehr mächtig ist und Körper oder Geist verletzen könnte. Ich bin alt - nach vielen schweren Prüfungen und Dutzenden von Fehlern, die nicht nur mir Pein bereiteten, sondern auch anderen, mache ich mir in diesem Punkt nichts mehr vor. Blind? Ja. Aber nicht blind geboren.
Ich war damals gerade alt genug, um über die verschiedensten Dinge vor mich hinzuplappern, gerade alt genug, um umherzulaufen, ohne über die eigenen Füße zu stolpern, dazu imstande, auf Möbelstücke zu klettern, ohne dafür fremde Hilfe zu benötigen aber nicht alt genug, um die Tugend der Diskretion zu verstehen, das Lügen des Schweigens. Meine Mutter entwickelte damals erste argwöhnische Vermutungen in Hinblick auf mein Talent, und sie versuchte mich zu lehren, in der Gegenwart der Älteren still zu sein. O ja, ich muß zugeben, mit diesem Unterfangen hatte sie nur geringen Erfolg. Juntar - ein kleines Dorf in den Bergen Rabikkas; jede dritte Person ein Onkel, eine Tante oder ein Vetter. Aber du weißt ja, wie es mit solchen Sachen ist: Manche Vettern sind einem näher als andere. Ich machte den Fehler, einen Vetter als Lügner zu bezeichnen, als er behauptete, er habe nicht mit einer Kusine geschlafen und sie geschwängert, und der zweite Fehler bestand darin, meine Worte mit der Wahrheit zu beweisen, die sich in seinem Gesicht verbarg. An jenem Abend kamen die Leute The-rissas und brachten mich nach Obbatar. Lange Zeit testeten sie mich.
Während der ersten Tage fand ich Gefallen an der mir geltenden Aufmerksamkeit. Ich wußte, daß man aufrichtig an mir interessiert war. Ich wurde verwöhnt und verhätschelt, und all das genoß ich sehr. Ich war damals viel zu jung, um die Motivation zu verstehen, auf die sich jenes Interesse gründete. O ja, oft genug weinte ich mich in den Schlaf, weil ich meine Mutter vermißte, die Ziege, die ich so sehr mochte, die Brüder und Schwestern, die Onkel und Tanten und anderen Verwandten, all das, was ich in meinem bis dahin so kurzen Leben kennengelernt hatte. Doch das geschah immer seltener, als ich mich nach und nach an das Leben im Zentrum gewöhnte. Nach drei Monaten immer neuer Tests betäubte man mich, auf daß ich einschlief, und während ich ruhte, machte man mich blind. Auf diese Weise wollte man feststellen, ob ich die Wahrheit aufgrund von Mimik und Gestensprache erkannte. Mit solchen Leuten konnte Therissa nichts anfangen. Oh, jene Behandlung bereitete mir keine Schmerzen; man ging sehr behutsam und rücksichtsvoll zu Werke - soweit man das von einer solchen Prozedur sagen kann. Ich bekam ein Anästhetikum, und anschließend wurde der Sehnerv im Verlauf einer einfachen Operation entfernt.
Und ich blieb halbbetäubt, bis die Wunde verheilte. Ich kann mich nicht daran erinnern, mich damals auch nur unwohl gefühlt zu haben, aber du solltest dabei bedenken, daß meine Kindheit inzwischen viele Jahre zurückliegt. Therissa? Nein, ich bin ihr nie begegnet. Nicht ein einziges Mal, stell dir das nur vor, mein Freund. Übrigens: Fühlst du dich wohl, obgleich du mir so nahe bist? Ja, ich stelle dir diese Frage, obwohl ich eigentlich gar keine Antwort darauf zu hören brauche. Begreifst du nun den Wert einer Lüge? Wenn ich geschwiegen hätte, wäre jetzt nicht das Unbehagen in dir. Und das mag dir erklären, warum Therissa sich nicht ihren Schoßtieren nähert, sie nur beobachtet. Ja, ja, ich bin blind, aber es gibt Dinge, die ich auch ohne Augen erkennen kann.
Schoßtiere? Ja. Als was soll man uns denn sonst bezeichnen? Wie ich vorhin schon sagte: Man verhätschelt uns, umgibt uns mit Luxus. Sieh dich um, mein Freund. Ist dies nicht eine prächtige Welt für einen blinden alten Mann? Was für eine herrliche Umgebung man doch für uns schuf! Wunderbare Strukturen, eine unaufdringliche Vielfalt von Geräuschen, das Rauschen fallenden Wassers, die Melodie des Windes, die Höhlungen in den Felsen, die während eines Sturmes pfeifen und verstummen, wenn die Böen ihre Kraft verausgabt haben. Schließ die Augen und besinn dich auf deine Ohren, auf deinen Tastsinn. Dann wird dir klar, auf welch angenehme Weise man uns hier unterbrachte. Man gönnt uns ein Leben in Luxus, ja, und wir reproduzieren uns auf das Geheiß unserer Gebieter. Kaum hatte für mich die Pubertät begonnen, wurden Frauen zu mir gebracht. Ich könnte selbst heute noch schallend lachen, wenn ich daran denke, wie einfältig ich damals war. Ich, der erste echte Wahrheitskenner im Zoo Therissas … Natürlich schickte
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