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Das Erbe der Vryhh

Das Erbe der Vryhh

Titel: Das Erbe der Vryhh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Clayton
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der Fußknöchel und blickte sich langsam im Zimmer um, betrachtete die blassen und erdbraunen Farben, die komplexen Muster der aus Grasfasern geknüpften Bodenmatten, die Kissen, ihre Bezugsgewebe, die sie selbst hergestellt oder als Gaben von Kimpri erhalten hatte, die Platten und Täfelungen mit den von Kimpri und Keran stammenden Schnitzmustern, das Schaumglas der runden Fenster, die unterschiedlichen Lampen, von denen ein mattes und goldfarbenes Glänzen ausging, das im Raum ebenso viele Schatten schuf wie helle Stellen. Sie nahm auch den Geruch der Duftöle wahr, der ihre Unterkunft erfüllte. Ihr Heim - nach zwei Jahren des Aufenthalts im Dom Hyarolls. Amaiki seufzte und schloß die Augen. Und nacheinander entstanden vor ihrem inneren Auge die Konturen verschiedener Züge, die Gesichter derjenigen, die nicht nur zum Stamm gehörten, sondern auch zu ihrem Partnerschaftszirkel. Keran, ein langes und schmales Antlitz, Augen wie Bernsteinfeuer; in der Regel war sie ständig ungewöhnlich aktiv und konstruierte alle möglichen Dinge. Betaki, rundlich und pausbäckig, empfindsam, die Augen schläfrig, Behüter und Ernährer. Muri, zart und doch kräftig, flink genug, um einen Blitz zu fangen; er kümmerte sich um die finanziellen Angelegenheiten der Familie. Kimpri, verträumt und tiefsinnig, Schöpferin von Form und Struktur, Weberin und Schnitzerin.
    Und Se-passhi, fragiler noch als Muri, der Naish des Zirkels, voller Liebe, die fleischgewordene Bindung.
    Se-passhi berührte Amaiki, hüllte sie ein mit seiner Zärtlichkeit, erweiterte die Wahrnehmung auch auf die anderen. Und Amaiki spürte sie, flüsterte ihre Namen, fühlte hinter ihnen die geisterhaften Präsenzen der Brütlinge, eins, zwei, drei, vier -vier?
    Ein neuer Brütling. Sie ließ ihnen den Wind ihrer Freude entgegenwehen, empfing ihr Glück … Sie seufzte und teilte ihnen auch ihren Kummer mit, ihre Sorge … »Kommt«, raunte sie, »kommt zu mir. Ich muß mit euch sprechen …« Sie wisperte diese Worte und wußte doch, daß die Partner ihre Botschaft auf andere Weise empfingen … »Kommt, ich brauche euch, ich brauche euch alle .
    . .« Sie vernahm das Flüstern Se-passhis, das nicht eigentlich aus Worten und Silben bestand, sondern eher aus Bedeutung. Und als das Murmeln verklang, hatte sie die Gewißheit, daß der Partnerschaftszirkel in zwei Tagen beim höchsten Stand der Sonne am Komkiosk auf sie warten würde, begriff auch, daß ihre Partner fast ebenso sehnsüchtig ein Zusammentreffen erwarteten wie sie selbst
    … Sie antwortete mit Liebe und einem Seufzen, das das Gefühl ihrer Einsamkeit vermittelte, empfand die emotionale Reaktion darauf, Mitleid und Trost, fühlte anschließend, wie sich die Präsenzen zurückzogen, woraufhin ein stechender Schmerz in ihr entstand, eine Pein des Verlusts.
    Amaiki schlug die Augen auf und seufzte erneut. Es verlangte sie so sehr nach der Gegenwart der anderen wie während der ersten Tage im Dom. Mehr als drei Jahre der Arbeit lagen noch vor ihr, bevor sie in den Hort der Familie zurückkehren konnte. Sie zog die Knie an, schlang die Arme um sie und stützte den Kopf auf die Arme. Zwei Tage. Dann werde ich sie sehen und hören. Ich kann sie nicht berühren, aber wenigstens bin ich dazu in der Lage, ihre Stimmen zu vernehmen, ihre Gesichter zu sehen. Zwei Tage. Wie soll es mir nur gelingen, mich so lange zu gedulden? Zwei Tage …
    Sie schloß die Augen, gab sich ganz dem Gefühl der Sehnsucht hin und wartete, bis es aus ihr herausfilterte. Sie saß auf dem seidenen Läufer, reglos und stumm, bis in ihrem Innern Leere herrschte und sie wieder ruhig geworden war. Dann stand sie auf und begab sich in die kleine Küche, um ihr Abendessen vorzubereiten.
    Vrithian
    Zeugen (2)
    Die Blindheit der Wahrheit in Suling Laller
    Mein Name ist Binaram Kay. Bitte - mehr besitze ich nicht. Ich bin ein Erkenner der Wahrheit, beziehungsweise dessen, was manche Leute als Wahrheit erachten. Das ist der Fluch, mit dem ich geboren wurde, ja, ein Fluch. Du bist skeptisch, ja, diese Erkenntnis fällt mir nicht schwer. Du glaubst vermutlich, es sei großartig, sich darüber klarwerden zu können, ob andere Leute wirklich das zum Ausdruck bringen, was sie empfinden, oder ob sie lügen. Aber ich sage dir: Es gibt mindestens ebenso viele Gründe für Lügen, wie Lügen existieren. Nein, das ist nicht ganz richtig: doppelt so viele Gründe. Viele davon sind freundlich gemeint. Viele davon basieren auf dem Bedürfnis, sich vor etwas

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