Das Erbe des Bösen
nötig?
Natürlich war es das.
Erik öffnete die schmale Tür neben dem Kinderzimmer und stieg die Treppe zum Speicher hinauf. Er ging zu einem Stapel alter Kartons von einer Umzugsfirma. Sie enthielten kleinere Kartons, von denen Erik willkürlich den ein oder anderen öffnete. Zuletzt hatte er das getan, als er vor einigen Jahren mit den Kindern zusammen nach seinen alten Spielsachen gesucht hatte. Die Modelleisenbahn war im Karton geblieben, denn der Trafo benötigte amerikanische Spannung.
Der Blick auf die Gegenstände seiner Kindheit trieb Erik die Tränen in die Augen.
Sein Biologieheft. Er blätterte es durch und sah, mit welch unendlicher Mühe er jede einzelne Seite gestaltet hatte. Mendels Erbsenversuche, in unterschiedlichen Farben gezeichnete Tabellen . . . Er erinnerte sich, wie eingehend sich seine Mutter um seine Schulangelegenheiten gekümmert hatte, wie sie ihn unterstützt und bisweilen auch gedrillt hatte. Jetzt wünschte er sich, er könnte seine Kindheit noch einmal durchleben und dabei alles aus einer anderen Perspektive sehen.
Zornig warf er das Heft in den Karton und grub tiefer. Zeugnisse, die er seit Jahrzehnten nicht zu Gesicht bekommen hatte, außer kurz bei den Umzügen. Holzsachen aus dem Werkunterricht, die schmuddelige Katze, die als Kuscheltier gedient hatte – das einzige Stofftier, das er nicht zum endgültigen Verschleiß an seine eigenen Kinder weitergegeben hatte. Er hatte es immer neben sich gehabt, es war ihm eine ebenso große Hilfe beim Einschlafen |341| gewesen wie die finnischen Geschichten, die ihm sein Vater vorgelesen hatte. Erik fasste das Stofftier an und hörte plötzlich die Stimme eines anderen alten Mannes.
»Das ist ein Ozelot«, hatte Opa Anders erklärt. »Es lebt in allen Regenwäldern zwischen Mexiko und Paraguay, überall in Mittel- und Südamerika. Es ist eine Katze und mit dem Jaguar verwandt, kleiner als ein Löwe, aber größer als eine normale Katze. Und für den Menschen ist es überhaupt nicht gefährlich.«
Erik berührte die hölzernde Schnauze der Katze und die Abdrücke seiner eigenen kleinen Zähne darauf. Manchmal hatte er im Schlaf auf der Katze gekaut. Er drehte sie herum, sodass der Bauch zu sehen war. An der Naht fand sich ein kleiner, weißer Zettel. Der Text war verblasst, aber aus zwei Zentimeter Entfernung konnte man ihn entziffern:
»Made in Brazil.«
Erik legte das Tier in den Karton zurück und zog einen mit Gummiband zusammengehaltenen Stoß Ansichtskarten heraus, die ihm Opa Anders geschickt hatte: Sandstrände, Palmen, Sao Paolo, Rio de Janeiro . . . Auf den Stempeln waren Land und Jahr nicht zu erkennen, aber irgendwo mussten noch die ausgeschnittenen Briefmarken sein . . . Unter den Postkartenstößen lag tatsächlich ein Briefmarkenalbum. Zuerst kamen die schönsten Kolibri- und Blumenmotive. Bis 1963 stammten alle Marken aus Paraguay, erst danach aus Brasilien.
Erik hatte irgendwann im Fernsehen einen Dokumentarfilm über den holländischen Nazi gesehen, der »Adolf Eichmann und Josef Mengele verkauft« hatte. Eichmann war geschnappt, nach Israel gebracht und dort hingerichtet worden. Mengele hatte stets entkommen können. Man vermutete, dass er 1979 im Alter von achtundsechzig Jahren in Brasilien starb.
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Die schnurgerade A16 durchschnitt die baumlose französische Küstenregion am Ärmelkanal. Erleuchtete Schilder gliederten die Strecke, die in diesen frühen Morgenstunden auch kurz vor Calais kaum befahren war.
Rashid ließ die vom Fahren steif gewordenen Schultern kreisen, den Blick auf den VW Passat vor ihm gerichtet, der gerade den Blinker gesetzt hatte. Der Wagen fuhr an einer Ausfahrt ab, deren Schild das Symbol einer Autofähre zeigte. Saiid und Utabar würden mit der um 6 Uhr 30 nach Dover ablegenden
Pride of Kent
der Reederei P&O den Ärmelkanal überqueren.
Rashid fuhr geradeaus weiter, in Richtung Channel. Das Risiko, erwischt zu werden, wurde durch die Wahl der Verkehrsmittel gesplittet.
Als Rashid endlich die Rampe des Eurostars erblickte, drosselte er das Tempo und folgte einer leicht kurvigen Zufahrt zu dem breiten, gut ausgeleuchteten Autoareal, an dessen Ende sich eine ganze Reihe von Kontrollhäuschen befand. Wo die Schranke geschlossen war, brannte ein rotes »X« an der Ampel, an den beiden offenen Toren war das »X« grün.
Rashid fuhr ans Ende der kurzen Schlange. Seine Handflächen waren feucht vor Schweiß. Als er an die Reihe kam, fuhr er an das Abfertigungshäuschen heran,
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