Das Erbe des Bösen
am nächsten Tag im gleichen Strom in ihre Büros zurückzukehren. Lambert bog links in die King Edward Street ab und hielt vor dem kleinen Postman’s Park an.
»Warte hier, ich gehe an der Stelle vorbei«, sagte Stone und stieg aus.
Gemächlich ging er auf die Grünanlage zu, die im Schatten von Häusern und Bäumen lag. An einer Seite wurde sie von einer Wand mit Vordach gesäumt. Dort waren Ende des 19. Jahrhunderts dekorative Keramikplatten angebracht worden, die an gewöhnliche Bürger erinnerten, die das Leben anderer Menschen gerettet hatten.
Unter dem Dach war keine Spur von der Tasche zu sehen, die dort unter einer Bank hätte versteckt sein sollen.
Stone wollte schon wieder gehen, als er genau an der Stelle, wo die große Lonsdale-Sporttasche mit der Bombe stehen sollte, eine zusammengefaltete Zeitung entdeckte. Er trat näher und sah, dass an der Zeitung mit einer Büroklammer ein Blatt Papier befestigt war.
|420| Stone nahm es in die Hand.
Ihr wollt uns als Täter darstellen. Ihr bekommt, was Ihr wollt: Die Bombe wird explodieren. Aber an einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit.
Stone spürte, wie das Entsetzen durch seine Glieder fuhr. Mit zitternden Fingern tastete er nach dem Mobiltelefon in seiner Tasche.
|421| 60
Parviz und Saiid saßen in dem Mercedes Vito, der im dichten Verkehr durch Holborn in Richtung West End kroch. Sie hatten die Botschaft an Maleks amerikanische Spießgesellen im Postman’s Park hinterlegt, wo sie die Tasche mit der Bombe ursprünglich deponieren wollten.
Aufgrund der dichten Wolkendecke war es fast dunkel an diesem Nachmittag. Parviz musste scharf bremsen, als vor ihm ein Taxi am Zebrastreifen vor dem U-Bahnhof Chancery Lane anhielt.
»Pass doch besser auf!«, fuhr Saiid ihn an, und schaute durch das Plexiglasfenster in den Laderaum. Der mit Gurten befestigte elektrische Rollstuhl hatte sich aber nicht bewegt.
Saiid blickte auf die Uhr. Sie hatten es nicht eilig, bis zum Leicester Square im Herzen des touristischen London waren es nur noch zwei Kilometer. Allerdings musste man sich im Zentrum auf überraschende Verkehrsstockungen gefasst machen, durch Straßenarbeiten oder Unfälle – oder durch Terroralarm.
Ingrid fasste sich wieder. Das konnte sie, darin hatte sie Übung.
Sie griff zum Telefon und rief ihre Schwiegertochter an, die gerade beim Einkaufen war. Zunächst war Katja sehr unfreundlich und reserviert, aber als Ingrid nach Erik fragte, klang Sorge in Katjas Stimme durch.
»Er wollte . . . zur Polizei gehen, wegen . . . wegen einer bestimmten Angelegenheit«, sagte Katja. »Aber ich habe gerade erfahren, dass er dort immer noch nicht angekommen ist, obwohl er sich schon vor einiger Zeit auf den Weg gemacht hat.«
|422| »Zur Polizei?«, fragte Ingrid. »Warum das denn?«
»Das musst du Erik selbst fragen . . .«
»Hat es mit dem Uran zu tun?«
»Ich kann darüber jetzt nicht reden. Ich stehe bei Tesco an der Kasse. Wir telefonieren später.«
Ingrid gab sich Mühe, ihren aufsteigenden Zorn zu beherrschen. War Erik, dieser kleine Idiot, auf die Idee gekommen, der Polizei gegenüber wegen des Urans den Mund aufzumachen?
Andererseits: Was gab ausgerechnet ihr das Recht, anderen Menschen den Verrat von Informationen über das Uran vorzuwerfen?
Sie wusste ohnehin nicht, was sie von dieser ganzen Sache halten sollte. Nach Jahrzehnten in der Versenkung war das Thema auf einmal völlig überraschend wieder aufgetaucht. Der Amerikaner war zwar freundlich gewesen, aber es hatte ihr Angst gemacht, als er vor zwei Monaten vor ihrer Tür gestanden hatte, auch wenn sie sich zugleich ein wenig geschmeichelt gefühlt hatte.
Der Mann hatte sich als CI A-Mitarbeiter David Stone vorgestellt und ihr einige Fragen zu einem alten Thema stellen wollen. 1968 hatte Ingrid nämlich an die CIA weitergeleitet, was Rolf ihr über das Uranversteck am Ende des Krieges in Deutschland verraten hatte. Im Nachhinein hatte sie ihre Enthüllung bereut, denn sie hatte Rolf versprochen, für immer über das Thema zu schweigen. Sie hätte ohnehin allen Grund gehabt, vorsichtig zu sein, denn Rolf hätte im Gegenzug das ein oder andere aus ihrer Jugend zu erzählen gewusst . . .
Im Juni 1968 war Ingrid aber dennoch voller Zorn zu Will Moose von der CIA marschiert. Dieser Mann war in der wissenschaftlich-technischen Abteilung für das Programm zur Erforschung radioaktiver Stoffe zuständig, das Ingrid bestens bekannt war. Ursprünglich hatte ihre Absicht darin
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