Das Erbe des Greifen
hat alles Wichtige darin vermerkt, unter anderem Beichten, Gebete, Predigten, und eben auch dies: eine Anklage! Ich glaube, Astrak, hier liegt die Antwort auf unsere Fragen, ganz wie Lenise es vermutet hat. Hör einmal, was die Hohepriesterin zuletzt notierte:
»Heute Nacht kam die Prinzessin zu mir in den Tempel, verhüllt, in einfacher Kleidung und ohne die Begleitung ihrer Leibwache. Ich hatte mich schon zur Ruhe begeben, doch sie bestand darauf, mich zu sprechen. Osleen bat sie zu warten und weckte mich. Sie berichtete mir alles und sagte, die Prinzessin sehe fürchterlich aus. Ich empfing sie in meinen Räumen und fand Osleens Eindruck bestätigt: Die Prinzessin war bleich und nervös, ihre Augen waren gerötet, als hätte sie geweint, und ihre Stimme klang belegt. Auch blutete sie aus einer tiefen Wunde. Sie bat Osleen zu gehen, denn was sie zu berichten habe, sei nur für meine Ohren und die der Göttin bestimmt. Nachdem Osleen gegangen war, teilte die Prinzessin mir mit brüchiger Stimme mit, sie sei Zeugin eines ungeheuerlichen Verbrechens geworden und wisse nun nicht, was sie tun solle, denn der Täter stände über dem Gesetz.
Folgendes war geschehen: Der Prinz war für Sera Farindil entflammt, die Gesandte der Elfen. Als diese ihn zurückwies habe er sich erzürnt und ihr Gewalt angetan. Ser Ares, der Verlobte der Prinzessin und zweiter Gesandter der Elfen, habe versucht, weiteres Unheil zu verhindern. Doch auf Befehl des Prinzen wurde er von dessen Leibgardisten überwältigt und mit der Fackel geblendet. Mit letzter Kraft habe Ser Ares das Quartier der Prinzessin erreicht, wo diese ihn schwer verletzt und dem Tode nahe vorfand. Als die Prinzessin von den fürchterlichen Taten ihres Bruders erfuhr, suchte sie dessen Gemächer auf und fand dort die Sera Farindil übelst geschunden vor, denn auf Befehl des Prinzen vergingen sich soeben seine Leibgardisten an ihr. Die Prinzessin habe dem Einhalt geboten und ihren Bruder zur Rede gestellt. Es sei zu einem Streit gekommen, in dessen Verlauf der Bruder sein Schwert gezogen und versucht habe, die eigene Schwester zu erschlagen. Schwer verletzt, sei es ihr nur durch die Gnade der Göttin gelungen, sich des Angriffs zu erwehren und ihren Bruder in die Flucht zu schlagen. Dessen Leibgardisten hätten nicht eingreifen können, da sie durch ihren Eid auch an die Prinzessin gebunden waren. Sie befürchtet nun, dass der wahnsinnige Jähzorn, unter dem der Prinz von Jugend an leidet, ihn dazu bringen könne, sich anzueignen, was ihm verwehrt worden war! Er habe zudem angedroht, die Entscheidung des hohen Rats und der Priesterschaft, sie, die Prinzessin, zum Erben des Throns von Lytar zu ernennen, nicht zu akzeptieren! Das Bedenklichste aber sei die zornige Aussage ihres Bruders gewesen, dass er sich mit einem Gott verbündet habe, um der verfluchten Priesterschaft der Mistral sein rechtmäßiges Erbe abzuringen, und dass dieser Gott ihm versprochen habe, er, Belior, würde nicht eher sterben, bis er endlich die Krone in seiner Hand hielte. Mit der Gnade der Göttin war es mir möglich, die Wunde der Prinzessin zu schließen. Ich gab Anweisung, den Prinzen nicht im Tempel zu empfangen, und eile nun mit den Schwestern Osleen und Esirlene zum Palast, um dem Gesandten der Elfen, Ser Ares, Beistand zu leisten. In all meiner Zeit als Priesterin ist mir ein solcher Jähzorn wie der des Prinzen nicht untergekommen. Ich bete um den Beistand der Göttin und hoffe inständig, dass sich ein Krieg mit den Nationen der Elfen noch vermeiden lässt, auch wenn der Preis dafür das Haupt des Prinzen ist!«
Elyras Stimme verstummte. Astrak sah von dem aufgeschlagenen Buch zu ihr hoch. »Das steht dort so geschrieben?« Elyra nickte schwer.
»Göttin!«, hauchte Astrak. »Der Prinz tut einer elfischen Gesandten Gewalt an, blendet den Verlobten seiner eigenen Schwester und versucht diese dann zu erschlagen, um in den Besitz der Krone zu gelangen? Und anschließend fordert die Hohepriesterin der Mistral seinen Kopf als Pfand, um einen Krieg mit den Elfen zu verhindern?«
»Ja, so steht es hier.«
»Besitzt du nicht ein Buch mit einem Bild, das die Prinzessin und ihren Bruder zeigt, wie sie beide nach der Krone greifen? Ich kann mich daran noch gut erinnern! Die zwei waren doch Zwillinge, nicht wahr? Wie kann ein Bruder seiner Schwester nur so etwas antun? Welcher Mann fällt über eine Frau her, nur weil sie ihn ablehnt?« Astrak schüttelte verständnislos den Kopf. »Alles,
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