Das Erbe des Greifen
Farindil war also in Lytar, um sich mit dem Prinzen zu vermählen. Doch sie weist ihn zurück. War ihr das überhaupt gestattet?«
Der Geschichtenerzähler zog an seiner Pfeife. »Diese Frage hat sich bislang niemand gestellt. Ich denke, dass sie es durfte. Seht Ihr, es ist nicht unüblich, Vermählungen zu arrangieren. In unserem Tal war es sogar notwendig, um Inzucht zu verhindern. Aber dennoch stand es jeder Frau und jedem Mann frei, abzulehnen, selbst wenn sie dann innerhalb des Tals keine Verbindung mehr eingehen konnten. Auch wenn es um einen Thron geht, bedarf eine Heirat des Segens der Göttin. Und den erteilt sie nur dann, wenn ein jeder frei und ohne Zwang vor sie tritt.«
»Wenn es so ist wie bei uns«, sagte Lamar nachdenklich, »dann wird man das Brautpaar kaum gebeten haben, diese Frage aufrichtig zu beantworten. Vermutlich hat sich die Sera Farindil mit ihrer Entscheidung gegen den Willen ihrer Mutter gestellt, das ist ihr gewiss nicht leicht gefallen. Dieser Prinz muss sehr … abstoßend auf sie gewirkt haben. Sagt … war er entstellt?«
»Ganz im Gegenteil«, erklärte der Geschichtenerzähler. »Nach allem, was ich weiß, war er außerordentlich gut gebaut und schon in seinen jungen Jahren erfolgreich beim anderen Geschlecht. Es gab keinen Mann, der ihm beim Lanzengang oder im Schwertkampf gewachsen war. Sein Talent zur Kriegführung bewies er bei Grenzkonflikten, und stets kam er siegreich und als Held zurück. Man bewunderte und respektierte ihn.«
»Aber die Priesterinnen entschieden dennoch, dass die Krone an Prinzessin Meliande gehen sollte.«
»So habe ich es verstanden«, bestätigte der alte Mann nickend. »Man achtete und respektierte den Prinzen. Vielleicht fürchtete man ihn auch, denn er galt als jähzornig. Aber Meliande wurde geliebt. Zudem …« Ein Schmunzeln huschte über sein Gesicht. »Hörte ich, sie sei die Einzige gewesen, die ihn im Kampf besiegen konnte, und das, obwohl sie an der Kriegskunst deutlich weniger Gefallen fand als an den Künsten des Bardentums und der Magie. Er bestand auf seinen Privilegien, und er nutzte sie, sie jedoch kümmerte sich wenig darum. Während er den Palast nur mit seinem Gefolge verließ, fand man sie auf dem Marktplatz, wo sie sich kaum anders gab als andere.«
»Also sah das Volk ihn als Helden an und sie als eine von ihnen.«
»Das nun auch wieder nicht«, sagte der alte Mann lächelnd. »Meliande war außergewöhnlich, und jeder wusste, wer sie war. Es gab einen anderen, weitaus einfacheren Grund, weshalb die Priesterschaft sie zur Herrscherin von Lytar machen wollte. Meliande kannte Gnade. Belior dagegen nicht.«
»Eine Herrschaft ohne Gnade ist Knechtschaft«, zitierte Lamar und runzelte die Stirn. »Das kam mir gerade in den Sinn. Aber woher stammt das Zitat?«
»Aus dem Buch der Göttin«, sagte der alte Mann lächelnd. »Ihr findet diese Worte auf den Altarsteinen in ihren Tempeln.«
»Wie ging es weiter?«, fragte Lamar.
»Nun, Astrak gelangte ohne Probleme zum Hauptlager in Lytar. Zur gleichen Zeit erreichten auch die Freunde und die Sera Farindil die Stadt Berendall …«
Die Mauern von Berendall
»Ich dachte, Berendall wäre kaum mehr als ein größeres Dorf«, sagte Garret leicht überrascht, als die massiven Mauern der Stadt in der Ferne sichtbar wurden. »Hätte ich zuvor nicht die Ruinen von Alt Lytar gesehen, wäre ich wohl noch weitaus mehr beeindruckt … aber bei der Göttin, diese Stadt ist noch immer groß genug!«
»Ich schätze, es leben etwa dreißigtausend Menschen dort«, teilte ihm die Sera Bardin mit. »Berendall ist das Zentrum der Greifenlande, und das war es seit jeher. Schon vor dem Kataklysmus spielte es eine wichtige Rolle. Auch damals schon beschränkte der Pass im Norden den Zugang zum Tal. Der größte Teil des Warenverkehrs wurde von hier aus mit Schiffen nach Lytar verfrachtet.«
»Das erklärt dann auch die massiven Wälle«, meinte Garret und wich mit seinem Pferd einem entgegenkommenden Lastkarren aus. »Schwer vorzustellen, dass man die Stadt erfolgreich belagern kann!«
»Es gibt Belagerungsmaschinen, die schwere Steine über die Mauern werfen können. Außerdem Magie, Krankheit, Hungersnöte und Verrat. Belior verfügt über eine Flotte, die den Hafen blockieren kann. Zudem fehlen dem Grafen von Berendall die Mittel, um die Mauern instand zu setzen, Vorräte anzulegen oder eine Armee aufzubauen. Was nützt einem eine Mauer, wenn man sie nicht verteidigen kann?
Was hilft sie
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