Das Erbe des Greifen
heilige Symbol der Göttin. Auf den Stufen davor lagen die sterblichen Überreste einer weiteren Priesterin, so als wollte diese noch im Tode den Zugang versperren.
Astrak half Elyra, die Überreste der Erschlagenen einzusammeln. Er wickelte sie sorgsam in die alte Robe der Priesterin ein und trug das Bündel dann hinaus zu den Gebeinen der anderen, die nun den Weg zum Tempel säumten. Delos stand da und wischte sich mit einem Tuch über die Stirn. Die Mittagssonne stand hoch am Himmel, und es war warm.
»Bis jetzt haben wir vierunddreißig geborgen«, stellte Delos mit belegter Stimme fest.
»Mit ihr sind es fünfunddreißig«, sagte Astrak leise, während er das Bündel vorsichtig ablegte. »Was für ein Gemetzel.« Er sah hinüber zur anderen Seite, wo vier Haufen in Rüstungen darauf warteten, in die Erdspalte geworfen zu werden. »Sind das alle?«
»Ja«, antwortete Delos. »Bis jetzt jedenfalls. Es waren vier Soldaten, schwer gerüstet und mit Schwertern bewaffnet, mehr brauchte es offenbar nicht.«
»Hätte man sie nicht in die Flucht schlagen oder sich zumindest wehren können?«
»Vielleicht«, entgegnete Sergeant Delos nachdenklich.
»Aber die meisten Opfer waren Frauen, viele davon im Nachtgewand. Ohne Vorwarnung stürmen vier schwer bewaffnete Männer herein und gehen sofort zum Angriff über … es ist Nacht, es ist dunkel …« Der Soldat schüttelte den Kopf. »Sie werden nicht einmal verstanden haben, was mit ihnen geschah.« Er sah an Astrak vorbei ins Leere. »Ich habe solche Szenen schon öfter gesehen. Und manches Mal war es meine eigene Klinge, von der das Blut tropfte.«
»Ihr habt Unschuldige erschlagen?«
Delos sah ihn ernst an.
»Im Krieg leiden fast immer nur die Unschuldigen. Und manchmal ist es … wie ein Rausch. Ich habe gesehen, was einer von ihnen vor der Tür in den Boden ritzte: ›Vergebt uns‹ …« Er zuckte die Schultern. »Nun frage ich mich, ob ich eher auf Vergebung hoffen darf als diese hier.«
»Das müsst Ihr Elyra fragen«, meinte Astrak rau. »Ich weiß nur, dass es am schwersten ist, sich selbst zu vergeben.«
»Manche Dinge kann man sich auch nicht vergeben!«
Astrak öffnete den Mund zu einer Erwiderung, doch der Soldat schüttelte den Kopf. »Wenn ich darüber rede, dann vielleicht mit ihr.« Er sah zum Tempel zurück. »Ich mache jetzt weiter«, sagte er dann, als Astrak wortlos nickte. »Es gibt noch einiges zu tun.«
Alte Sünden
Als Astrak wieder zurück am Treppenabgang war, stand die Tür unter dem Altar bereits offen. Von unten hörte er gedämpfte Stimmen heraufdringen, Trok aber lag noch oben vor den Stufen.
»Gehst du nicht mit hinunter?«, fragte ihn Astrak. Der Schreckenswolf hob den mächtigen Kopf, schüttelte ihn und ließ ihn wieder auf seine Vorderpfoten sinken, ohne dabei die Augen vom geöffneten Zugang zu nehmen.
»Wozu diente dieser Raum?«, hörte Astrak Elyra fragen, als er unten ankam.
»Vermutlich als Archiv«, meinte Lenise. »Doch genau weiß ich es nicht. Ich denke aber, dass Ihr hier Antworten auf Eure Fragen finden werdet.«
Die Stimmen kamen vom anderen Ende des Gangs, der sich vor Astrak öffnete. Anders als erwartet, war es hier unten nicht dunkel; ein leichter Schimmer ging von den Deckensteinen aus, genug Licht, um sehen zu können.
Astrak folgte den Stimmen und fand die beiden Frauen in einem großen kreisrunden Gewölbe am Ende des Gangs. Regale mit Schriftrollenbehältern und dicken Büchern füllten den Raum. Elyra und Lenise standen in dessen Mitte vor einem Lesepult, über dem eine kristallklare, ein helles Licht spendende Kugel schwebte. Wenn Astrak sich nicht täuschte, befand sich dieses Pult direkt unter der Statue der Göttin. Ein dickes, in Leder gebundenes Buch lag aufgeschlagen darauf, daneben befanden sich Schreibutensilien, feine Federn, ein silbernes Messer sowie ein aus kostbarem Kristall geschliffenes Gefäß, das noch Reste eingetrockneter Tinte erhielt.
In dem Moment, als Astrak zu ihnen trat, blies Elyra den Staub von den aufgeschlagenen Seiten. Nur ein Satz stand dort: »Mit der Gnade der Göttin.«
Die junge Priesterin blätterte eine Seite zurück und beugte sich vor.
»Es ist ein Geständnis«, sagte sie erstaunt. »Oder eher eine Anklage, die vor die Hohepriesterin gebracht wurde!« Sie blätterte eine Seite zurück, las ein paar Absätze und zog scharf die Luft ein. Dann sah sie hoch zu Astrak.
»Es scheint eine Art Tagebuch zu sein«, erklärte sie ihm. »Die Hohepriesterin
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