Das Erbe des Greifen
zustimmend zu und warf dann einen weiteren zu seiner Schwester und Garret hinüber. »Manchmal beneide ich ihn«, meinte er nachdenklich.
»Warum?«, wollte sein Vater wissen und setzte die letzte Bank vor dem Wagen ab. »Weil er sich wegen nichts Sorgen macht?«
Tarlon schüttelte langsam den Kopf und klappte die Wagenwand nach oben, um den schweren Messingriegel auf einen Schlag in die Zuhaltung zu treiben. »Das ist es nicht. Ich weiß, dass er sich sehr wohl Sorgen macht, manchmal, wenn auch selten, spricht er sogar darüber. Nein, es ist seine Fähigkeit, die Dinge zu akzeptieren, wie sie sind, um die ich ihn beneide.« Er sah seinen Vater prüfend an. »Um Vanessa macht er sich ebenfalls Sorgen. Wirst du ihr denn verbieten, mit uns zu kommen? Genau das hat sie nämlich vor.«
Hernul wischte sich mit dem Hemdsärmel den Schweiß aus dem Gesicht und schaute zu seiner Tochter hinüber. Garret musste gerade irgendetwas zu ihr gesagt haben, das sie erheiterte, denn sie lachte leise. »Nein«, antwortete er dann. »Das kann ich nicht. Sie lacht. Und seitdem deine Mutter von uns ging, lacht sie nur, wenn er da ist.« Wieder wischte er sich mit dem Ärmel über das Gesicht, nur war es diesmal nicht wegen des Schweißes. »Was ist mir dir, Sohn?«, fragte er anschließend leise.
Tarlon hielt inne und sah seinen Vater fragend an.
»Was meinst du damit?«
»Ich meine dich und Elyra. Deine Mutter war davon überzeugt, dass ihr euch die Hände binden würdet. Und ich merke, wie du ihr nachsiehst, wenn sie in der Nähe ist.«
»Sie ist die Priesterin Mistrals«, teilte ihm Tarlon mit unbewegter Stimme mit. »Ihr Leben gehört nun der Göttin.« Mit diesen Worten wandte er sich ab und ging nach vorne, zu den Leitpferden des schweren Vierergespanns. »Ich fahre jetzt den Wagen zur Seite, danach schirre ich die Pferde ab und versorge sie. Da kommt übrigens Pulver, er sieht aus, als wolle er dich sprechen.«
»Die Stadt ist mir noch immer unheimlich«, sagte Garret etwas später zu Tarlon, der neben ihm stand. Beide hielten einen Humpen Dünnbier in der Hand, denn auch wenn alles danach aussah, als ob die Verderbnis tatsächlich von der Stadt genommen worden war, wollte niemand das Risiko eingehen, das hiesige Wasser zu trinken. Garret lehnte an einer der Zeltstangen und ließ seinen Blick über die Ruinen der alten Stadt gleiten. »Lytar ist voller ruheloser Geister«, fügte er leise hinzu. »Ob wir sie wohl jemals vollkommen bannen werden?«
Die Fackeln auf dem Platz vor der alten Börse waren nicht die einzigen Lichter, die die Nacht erhellten. Weiter hinten schimmerte blass und bläulich eine Säule aus Licht, in deren Licht längst verfallene Häuser aussahen, als wären sie nie zerstört worden. Von Ungeheuern und verdorbenen Wesen bevölkert, schufen die alten Magien der Stadt Bilder aus längst vergangenen Zeiten. Hier und da sah man sogar eine Bewegung hinter erleuchteten Fenstern, die bei Tage nur leere, verfallene Höhlen waren. Ein kalter Schauer lief Garret über den Rücken und ließ ihn sich abwenden. Die Verderbnis war ihrer Quelle beraubt, mit etwas Glück würden ihre Auswirkungen ebenfalls bald verschwunden sein. Tarlon schwieg noch eine Weile. Dann warf er einen Blick gen Himmel, dorthin, wo am Firmament der helle Stern der Göttin Mistral leuchtete, die nach mehreren Jahrhunderten Alt Lytar endlich wieder ihre Gnade schenkte.
»Sie zu bannen ist nicht unsere Aufgabe. Elyra wird sich darum kümmern.« Er drehte sich um und schaute durch die offene Zeltplane ins Zelt hinein, wo an einem langen Tisch der Ältestenrat tagte. Elyra befand sich unter ihnen, und es war ein ungewohnter Anblick, sie dort sitzen zu sehen. Doch es war ihr Amt und nicht ihr Alter, das sie an diesen Tisch gebracht hatte. Was sie selbst davon hielt, war nicht zu erkennen, ihr fein gezeichnetes Gesicht zeigte keinerlei Regung. Sie schien seinen Blick bemerkt zu haben, denn sie wandte sich zu ihm um und sah ihn einen Moment lang an, bevor sie sich wieder zu Pulver drehte, der sich gerade mit Hendrik, dem Söldnerführer, unterhielt.
Auch für ihn hatte Barius seinen Herrn um Heilung angefleht, dennoch würde es noch Tage dauern, bis sich der Mann wieder von seiner Bahre erheben würde. Aber er war wach, hörte aufmerksam zu und richtete sich jetzt sogar auf, um Pulvers letzte Frage zu beantworten.
»Ihr habt Belior eine blutige Nase geschlagen«, begann er, und man merkte ihm an, dass ihn das Sprechen noch immer
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