Das Erbe des Greifen
verfügte.
Der Einzige im Rat, der mittlerweile nicht immer zustimmend nickte, wenn Pulver etwas vorschlug, war Ralik, der Radmacher des Dorfes.
Aber umgekehrt war Meister Pulver auch der Einzige, der seinerseits Meister Ralik dazu bringen konnte, seine Meinung nochmals zu überdenken.
»Was führt dich zu mir?«
»Ich wollte wissen, ob der Weg zum Haus meiner Herrin schon gefunden wurde und ob er gangbar ist.«
»Gefunden haben wir ihn. Schau, hier ist der Hafen mit der alten Börse. Und das hier ist die Bruchlinie …« Bedächtig beugte sich Pulver über die Karte und fuhr mit dem Finger einen eingezeichneten Kohlestrich entlang, der die alte Stadt in zwei fast gleich große Hälften teilte. »Das gesamte Stadtgebiet, das sich rechts von dieser Linie befindet, liegt zwei bis zwanzig Mannshöhen unter Wasser«, fuhr Pulver fort.
Elyra nickte ungeduldig, das wusste sie schon.
»Was ist mit dem Tempel? Ist er etwa auch versunken?«
»Nein«, sagte Pulver. »Das ist ja das Kuriose daran. Diese Ausbuchtung hier … schau.«
Er legte den Finger auf eine Stelle der Karte, an der, bereits verblasst und nur noch schwach zu erkennen, der Stern der Mistral zu sehen war.
»Das ist der Tempelbezirk«, erklärte Pulver leise. »Er war und ist von hohen Mauern umgeben. Nur ein Tor führt in ihn hinein, und in seiner Mitte liegt das Haus unserer Göttin … und er ist, wenn ich dem Glauben schenken will, was mir die Gefangenen berichtet haben, vollständig intakt.«
»Wirklich?«, rief Elyra überrascht aus, nachdem sie wusste, dass kaum eines der Gebäude in der Stadt den Kataklysmus und die darauf folgende Zeit unbeschadet überstanden hatte und von allen Bauwerken allein die alte Börse intakt geblieben war. Aber selbst diese hatte unter dem Ansturm der Wassermassen gelitten.
»Es sieht ganz danach aus, als hätte die Göttin ihr eigenes Haus verschont«, lächelte Pulver. »Warum sollte sie auch ihr eigenes Heiligtum zerstören? Dennoch ist es seltsam.«
»Weshalb?«, fragte Elyra neugierig.
»Genau hier«, sagte Pulver und zeigte mit dem Finger auf eine gezackte Linie, die nachträglich in die Karte eingezeichnet worden waren, »hat sich der Erdboden nach dem Kataklysmus aufgetan. Die Spalten und Verwerfungen des Bodens haben dabei ein Muster gebildet, wie wenn man mit einem Hammer ins Zentrum eines flachen Glases schlägt. Nur dass sich in unserem Fall, genau dort, wo der Hammer aufgeschlagen ist, der Tempel befindet.«
»Den Tempel«, antwortete Elyra mit belegter Stimme, »traf es also am härtesten.«
»Nur, dass er völlig intakt geblieben ist.« Pulver schüttelte verständnislos den Kopf. »Ja, und genau das verstehe ich nicht, weil das nach allem, was wir von dem Untergang hörten und was ich von ihm weiß, nicht sein dürfte. Außerdem gibt es noch ein weiteres Problem.«
»Welches wäre das?«
»Das Gebiet ist noch nicht gesichert, und neben den vielen Bestien und Ungeheuern, die es gibt, ist der Boden dort nicht nur unstet, sondern auch nach wie vor von vielen Erdrissen durchzogen. Und einer von ihnen, so hat man mir berichtet, zieht sich ausgerechnet quer über den gesamten Tempelvorplatz. Er muss gute acht Schritt breit sein, so dass wir ihn nicht so einfach überwinden können.«
»Das heißt, wir müssen zuerst eine Brücke bauen«, stellte Elyra enttäuscht fest.
»Nur ist zuvor noch so viel anderes zu tun, dass ich einfach keine Leute abstellen kann, die sofort mit dem Brückenbau beginnen«, meinte Pulver bedauernd. »Wir brauchen jeden Mann. Zudem ist die Gegend, wie gesagt, nicht sicher. Die Gefangenen behaupten, dass das Gebiet um den Tempel herum verwunschen ist, es dort unsichtbare Bestien gäbe und noch immer alte Magien und Zaubereien wirksam wären … für sie endete jeder Versuch, den Tempel zu betreten, unglücklich.«
»Vielleicht waren sie dort einfach nicht erwünscht«, lächelte Elyra.
»Das mag wohl sein.«
»Wir hingegen sind erwünscht«, erklärte Elyra zuversichtlich.
»Das will ich hoffen«, erwiderte Meister Pulver. »Dennoch muss es warten.«
»Meister Pulver, es ist wichtig«, betonte Elyra eindringlich.
Der Alchimist seufzte. »Ich kann verstehen, dass es dir wichtig ist, Elyra. Aber schau, wir haben in den letzten Jahrhunderten auch keinen Tempel gebraucht. Die Herrin der Welten ist an jedem Ort, an dem sich ihre Gläubigen befinden. Wir brauchen keinen Tempel, wir brauchen dich. Es ist noch zu gefährlich. In zwei oder drei Wochen vielleicht
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