Das Erbe des Greifen
…«
»Dann wird es zu spät sein. Wir müssen jetzt handeln«, sagte Elyra in so einem bestimmtem Tonfall, dass Pulver der Priesterin, die entschlossen und kerzengerade vor ihm saß, einen überraschten Blick zuwarf. Wie die Priesterinnen der Mistral, die Pulver auf alten Bildern gesehen hatte, lagen ihre Hände ruhig und ausgestreckt auf ihren Oberschenkeln, und auch der Faltenwurf ihrer priesterlichen Robe entsprach exakt den Darstellungen, die Pulver bekannt waren. Ob Elyra wusste, dass dies genau die Pose war, die die Priesterinnen stets eingenommen hatten, wenn sie früher jemandem eine Audienz gewährt hatten? Kannte sie die alten Bilder überhaupt? In diesem Moment wurde Pulver bewusst, dass er nicht mehr einfach nur Elyra, die Tochter der Heilerin Tylane, vor sich hatte, sondern die Hohepriesterin seiner Göttin und damit das spirituelle Oberhaupt des Dorfes.
»Gibt es etwas, das ich nicht weiß?«, fragte er vorsichtig und von ihrer ruhigen Sicherheit unwillkürlich beeindruckt.
»Ich hatte letzte Nacht eine Vision. In ihr befand ich mich im Tempel meiner Herrin. Ich hielt eine Krone in der Hand, und Belior stand vor mir und forderte sie ein. Ich gab sie ihm.«
Pulver zog scharf den Atem ein.
»Zeigte dir die Vision noch mehr?«
»Ich sagte etwas zu ihm.«
»Und was?«
»Von all dem, was hier gehortet ist, von all dem, was dein Erbe war, willst du nur dieses eine Stück Tand? So nimm sie aus der Hand der obersten Dienerin Mistrals, der Göttin, die du verleugnest.« Elyra runzelte die Stirn. »Nach diesen Worten endete die Vision, ich sah nur noch, wie Belior nach der Krone griff und dabei hämisch lachte.«
»Wird die Vision in Erfüllung gehen?«, fragte Pulver, dessen Gesicht fahl geworden war.
»Ich weiß es nicht«, gestand Elyra. Ein schnelles Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Es ist schließlich meine erste Vision.«
»Die Göttin möge uns schützen, wenn diese Vision wahr werden sollte«, flüsterte er betroffen. »Bei allem, was wir tun, hoffen wir doch, dass es einen Sinn hat. Wenn sich deine Vision jedoch bewahrheitet …«
Elyra lachte leise. »In meiner Vision wusste ich, dass es sein Untergang sein würde, nähme er die Krone«, erklärte sie Pulver, der bei ihren Worten erleichtert aufatmete. »Also sehe ich keinen Grund, den Moment zu fürchten. Mir geht es nun um zwei Dinge, Meister Pulver. Zum einen kam mir Belior bekannt vor, so als hätte ich ihn schon irgendwann zuvor einmal gesehen. Zum anderen sagte ich ihm in meiner Vision: › von all dem, was hier gehortet ist‹. Und daher denke ich, dass sich im Tempel etwas befindet, das wir finden sollten. Das wir wissen sollten.« Sie sah ihn ernst an. »Es ist wichtig, sonst würde ich es nicht von Euch erbitten.«
Pulver nickte und blickte einen Moment gedankenverloren auf die Karte vor sich, während er seine Schläfen massierte.
»Ich glaube dir ja«, erwiderte er schließlich nach einer Weile. »Wenn du sagst, dass es wichtig ist … Ich weiß nur nicht, wie ich es machen soll! Wir haben schon jetzt viel zu wenig Männer für all die Arbeiten, die zu tun sind.«
»Seht Ihr?«, meinte Elyra mit einem strahlenden Lächeln. »Deshalb denke ich auch, dass es eine gute Idee wäre, den Gefangenen anzubieten, die Seiten zu wechseln! Uns mag zwar ein hoffnungsloser Kampf gegen Belior bevorstehen, aber dennoch werden einige unter ihnen sein, die lieber bereit sind, für die richtige Seite zu sterben, als für die falsche zu siegen.«
»Wir sollen die Gefangenen frei lassen, und was dann? Was sollte sie daran hindern, nicht sofort gegen uns vorzugehen?«
»Was hindert sie jetzt daran? Schon jetzt brauchten sie nur zu beschließen, alle auf einmal über die Mauern zu klettern und uns zu überfallen! Sie tun es aber nicht, und dafür muss es einen Grund geben! Wenn sie bislang also nicht gegen uns kämpfen wollen, mögen sie ja vielleicht für uns kämpfen?«
Pulver bedachte die Priesterin mit einem undeutbaren Blick.
»Du hast wahrlich eine seltsame Auffassung von der Moral dieser Truppen. Es sind Veteranen … vergiß nicht, dass sie die ganzen letzten Jahre über nur Krieg für Belior geführt haben!.«
Elyra erhob sich. »Haben sie das? Wenn Ihr nichts dagegen habt, lasst sie uns doch einfach fragen, warum Sie das getan haben.«
Von Gedanken und Taten
Der Rest des Weges nach Mislok verlief für die drei Freunde und die Bardin bis auf ihre Begegnung mit einer Schar ärmlich gekleideter Bauern, die sich mit
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