Das Erbe des Loewen
breiter als ein Steinpfad, zu dessen Seiten zwölf Fuß hohe Mauern emporragten. Sollte ein Angreifer das Ausfallstor durchbrechen, so käme er ins Kreuzfeuer der Bogenschützen auf dem Wandelgang.
Am anderen Ende des Hofes war ein zweites Torhaus, das zum Innenhof und zum eigentlichen Turm führte. Es war durch die Stäbe des eisernen Fallgitters versperrt, das so schwer war, dass es zweier Männer bedurfte, um die Winde zu drehen. Doch Laurel hatte in ihrem Beutel noch einen weiteren Schlüssel, der eine zweite schmale Tür in einer Ecke der Mauer öffnete. Sie hatte gerade zwei Schritte gemacht, als ein Geräusch sie innehalten ließ.
„Hallo, ihr da im Turm! “ rief jemand von außerhalb.
Laurel wirbelte herum. Eine Hand legte sich auf ihr pochendes Herz, um es zu beruhigen. Man war ihr gefolgt. Sie hob die Röcke, stürmte die Treppe zum Wandelgang auf der Mauer hinan und blickte vorsichtig hinab.
Kieran!
Auf der anderen Seite des Sees saß er auf seinem mächtigen Streitross. Laurel verharrte reglos, den Rücken gegen die Mauer gedrückt.
„Laurel, antworte mir. Ich weiß, du bist da drinnen.“
Und so wird es auch bleiben, bis du wieder fortziehst.
„Ich kehre nicht ohne dich zurück.“
Verdammt. Ihr Pferd war draußen, und sie hatte weder Essensvorrat noch Decken für ein Nachtlager. Mit einem Seufzer der Niedergeschlagenheit blickte Laurel über die Mauer. „Was
willst du?“
„Hinein.“
„Nein“, war Laurels sofortige Entgegnung. Es war kindisch, sogar zwecklos, betrachtete man die Umstände. Doch in eine Ehe mit ihm gezwungen zu werden machte sie feindselig und unvernünftig.
„Ich werde nicht gehen.“ Er verschränkte die Arme über seiner breiten Brust.
„Tu, was dir gefällt.“ Sie drehte sich um, verließ den Wandelgang und stapfte zurück zum zweiten Tor. Ärgerlich hörte sie ihn ihren Namen rufen. Doch als sie den Innenhof erreichte, war Stille eingetreten. Diese Stille beunruhigte sie mehr als seine Forderung, ihn einzulassen. Was würde er tun?
Gewiss nicht zurückreiten. Der Gedanke verfolgte sie, als sie die Außentreppe emporstieg und einen dritten Schlüssel benutzte, um das Haupttor zu öffnen. Die Luft, die ihr entgegenschlug, war schal. Der Vorraum war fensterlos und nur erhellt durch das Licht, das von draußen durch die Tür hereinfiel. Sie ließ sie offen, durchquerte den Gang und wandte sich links in die Halle.
Man hatte die Läden vor den engen Pfeilschlitzen, die als Fenster dienten, geschlossen, doch es drang genug Licht herein, um die Hohe Tafel am Ende des Raumes zu erkennen. Die geschnitzten Stühle, die ihren Eltern und davor deren Eltern gehört hatten, schienen darauf zu warten, dass die nächste Generation auf ihnen Platz nahm. Laurel und ihr Gemahl. Es fiel ihr nicht schwer, sich Kieran an diesem Platz vorzustellen, wie er über die MacLellans, von denen ihre Mutter abstammte, herrschte. Die einfache Schönheit der groben grauen Mauern und das rauchgeschwärzte Holz der gewölbten Decke hoch über ihr schienen der richtige Hintergrund für Kierans stattliche Gestalt zu sein. Doch würde er spotten über das, was sie ihm brachte, und danach lechzen, ganz Edin Valley zu erringen, wie Aulay es getan hatte? Plötzlich schien der Raum kalt und feucht.
Laurel schlang beide Arme um ihren Körper, um das Zittern zu unterdrücken. Es war an der Zeit, hierher zurückzukehren, mit oder ohne Gemahl. Sie verharrte vor der Tür zu ihrer Mutter Söller, dann schob sie den Riegel zurück und trat ein.
Auch hier war es düster, indes, die Erinnerung an das fröhliche Gelächter der Mutter und die zärtlichen Neckereien des Vaters ließ dieses Gemach so hell erstrahlen wie die Tage, die sie einst gemeinsam hier verbrachten. Heilige Jungfrau, wie
sehr vermisse ich meine Eltern. Die Tagträume verschwammen in ihren Tränen, sie trat ans Fenster und öffnete die Läden. Darunter lag der Garten, den ihre Mutter angepflanzt, gehegt und gepflegt hatte. Nun war er von Unkraut überwuchert.
„Was ist das für ein Ort?“ wollte Kieran wissen.
Laurel wirbelte herum, drückte sich gegen die Mauer und legte die Hand auf ihr pochendes Herz. „K...Kieran“, stieß sie heiser hervor. „Wie bist du hereingekommen?“
Er lächelte. Gleichmäßige weiße Zähne und ein Grübchen in der stoppelbärtigen Wange kamen zum Vorschein. „Ein Söldner ist niemals ohne Seil und Enterhaken unterwegs. Wer weiß schon, wann es eine Mauer zu überwinden gilt?“ Er hatte Helm und
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