Das Erbe des Vaters
sagte sie. »Dein Leben schien immer in so ruhigen Bahnen zu verlaufen. Nichts zu verbergen, keine schmutzigen kleinen Geheimnisse.«
Als Evelyn im Paddington-Bahnhof die Rolltreppe verließ, stolperte sie und prallte mit einem anderen Reisenden zusammen. Er war noch relativ jung, seine Kleidung war schmuddelig, das kastanienbraune lockige Haar attraktiv zerzaust. Ein Gärtner, dachte sie, oder vielleicht ein Automechaniker. Er half ihr, Tasche und Schirm aufheben. Als sie sich beide gleichzeitig aufrichteten, gewahrte sie ein Aufblitzen des Interesses in seinen Augen. Sie fragte sich, ob ihr die Gefühle, die sie zu überwältigen drohten, anzusehen waren, ob ihre Verliebtheit und ihre Sehnsucht ihr aus den Augen strahlten, wie das bei Celia der Fall war. Einen Moment lang fragte sie sich, ob die andere Evelyn sich vielleicht mit diesem Fremden anfreunden könnte. Aber sie sagte nur halblaut Danke schön und eilte, ihre Sachen fest an sich gedrückt, ein wenig beschwipst und ziemlich durcheinander davon, um ihren Zug zu suchen.
Im Waggon, eingezwängt zwischen zwei Geschäftsleuten mit Schirm und Melone, erlaubte sie sich, an Hugo zu denken. Welch ein Luxus, diese kleine Auszeit, da sie sich schwergliedrig und innerlich beschwingt vom Alkohol mit geschlossenen Augen zurücklehnen und die kurze Spanne der Anonymität genießen konnte, bevor sie in den grauen Alltag einer Ehe zurückkehrte, in der kein Funke mehr glühte.
Es gab jetzt zwei Evelyns; die ältere mit ihren Ängsten und unerfüllten Träumen, und eine neue, andere, die zornig werden und lieben konnte und die manchmal mit Macht zum Vorschein kommen wollte, wie eine Pflanze, die zwischen zwei Pflastersteinen ans Licht strebt.
»Ich werde die nächsten zehn Tage nicht dasein, Romy«, sagte Mrs. Plummer. »Ich muß ins Krankenhaus. Nur ein kleiner Eingriff. Ich habe Jack Starling Bescheid gesagt, aber ich möchte nicht, daß das übrige Personal davon erfährt. Das gäbe nur Klatsch, und es ist wirklich nichts weiter als eine Kleinigkeit. Jack kennt den Betrieb wie seine Westentasche, und Sie halten im Büro die Stellung, da wird man meine Abwesenheit gar nicht bemerken.« Sie reichte Romy ein Bündel Papiere. »Das ist eine Liste der Dinge, die erledigt werden müssen, und da haben Sie die Telefonnummer und die Adresse der Klinik, falls etwas Wichtiges sein sollte. Ach, und Johnnie habe ich gesagt, ich müßte geschäftlich verreisen. Ich will nicht, daß er sich Sorgen macht.«
»In Ordnung, Mrs. Plummer.« Romy schwieg kurz, dann wagte sie es. »Ist es etwas –«
»Es gehört sich nicht, jemanden nach seinen Krankheiten zu fragen, mein Kind. Wenn der andere nicht von selbst etwas sagt, dann wahrscheinlich, weil die Sache peinlich ist. Also, haben Sie mir diese Wäscherechnungen herausgesucht?«
Ein paar Tage später nahm Romy sich den Nachmittag frei und fuhr zu der Klinik am Portland Place. Kannelierte Säulen flankierten das hohe, schwarze Portal. Daneben waren ein Messingschild und eine Klingel. Drinnen roch es so stark nach Desinfektionsmittel, daß sich ihr der Magen umdrehte. Die Stille, die nur ab und zu vom Schrillen einer Glocke oder dem Klang eilender Schritte durchbrochen wurde, war ihr unheimlich. Sie hatte Krankenhäuser nie gemocht. Es lag wahrscheinlich, sagte sie sich, an der Kombination von Autorität und Tod.
Eine Schwester führte sie zu Mrs. Plummers Privatzimmer. Durch die Fenstertür mit den Chintzvorhängen sah man auf einen kleinen Garten hinaus. Hier konnte man wenigstens atmen.
»Romy«, sagte Mrs. Plummer, die halb aufgerichtet in hohen Kissen lehnte.
»Im Hotel läuft alles wunderbar«, sagte sie. »Jacqueline vertritt mich im Büro. Ich dachte, Sie würden sich vielleicht über Besuch freuen.« Es gab keine Blumen, keine Pralinenschachteln, keine Obstschalen. Olive hatte ihr gesagt, Mrs. Plummer habe keine Familie. »Ich habe Ihnen einen Strauß Chrysanthemen mitgebracht, aber die Schwester hat ihn mir abgenommen.«
»Wie aufmerksam von Ihnen, Romy.« Mrs. Plummers blasses Gesicht schien im Kopfkissen zu versinken. Sie sah kleiner aus, älter. Sie sah aus wie jemand, den man behüten, um den man sich kümmern muß. Eine bedrückende Vorstellung.
Romy stellte alle Fragen, die zu einem Krankenbesuch gehörten: Wie geht es Ihnen? Fühlen Sie sich schon besser? Soll ich Ihnen etwas holen? Danach wurde es still, und die Wände des Zimmers schienen erstickend zusammenzurücken. Sie war sich ihrer Unzulänglichkeit
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