Das Erbe des Vaters
als würde er sie niemals wirklich kennen. Etwas schien zu fehlen – Leidenschaft vielleicht, die Leidenschaft, vor der sie stets zurückgescheut war, die sie einzig von ihrer zerstörerischen Seite gesehen hatte. Doch ohne Leidenschaft schien die Liebe oberflächlich und halbherzig.
Hinterher lag Tom ausgestreckt auf dem Rücken, die Augen geschlossen, während sie sich ankleidete. »Du hast es eilig«, sagte er.
»Ich bin hungrig. Ich habe heute noch nichts gegessen.« Aber das war nicht der wahre Grund für ihre Eile. Zum erstenmal war es ihr unangenehm, sich nackt vor ihm zu zeigen. Als wäre er, ohne daß sie es wahrgenommen hatte, nicht mehr der Geliebte. Nur noch ein Freund vielleicht. Oder jemand, dem sie einmal nahegestanden hatte.
»Es ist noch Brot da«, sagte er. »Und Paste.«
Sie fand ein Weißbrot in Wachspapier eingepackt und eine offene Dose Fischpaste, die einen grau schimmernden Belag hatte. »Herrgott noch mal, Tom«, sagte sie gereizt, »willst du unbedingt verhungern? Es ist alles so verdammt asketisch!«
»Wohl kaum«, gab er lachend zurück, in dem vergeblichen Versuch, sie aufzuheitern. Er stieg in seine Hose.
»Wir gehen aus. Ich habe Geld.«
»Romy –«
»Ich habe mehr bekommen diese Woche. Wegen der Überstunden.«
»Ich mag aber kein Geld von dir nehmen. Du mußt es dir sauer genug verdienen.« Er kam zu ihr und legte seinen Arm um sie. Seine Fingerspitzen strichen unter ihrer Bluse ihren Rücken hinauf und hinunter, leicht und ohne Druck. »Du siehst müde aus«, sagte er.
Plötzlich kamen ihr die Tränen. Wie dünn und bleich er war, als käme er nie ins Freie hinaus. Seine Lippen liebkosten ihren Hals, und sie fuhr ihm mit den Fingern durch das dicke blonde Haar. Natürlich liebe ich ihn, dachte sie. Wie könnte ich nicht?
Draußen blies ihr der Wind ins Gesicht und bauschte ihren Mantel. In einem Café ein Stück die Straße hinunter bestellten sie Spiegeleier und Chips. Ihre Lieblingsspeise, und doch brachte sie keinen Bissen hinunter. Das Eigelb starrte sie an wie ein schleimiges Auge, und die Chips klebten in erkaltendem Rinderfett zusammen. Sie schnitt sie auf, weil sie hoffte, ihr Teller würde dann nicht mehr so voll aussehen, und er würde von ihrer Appetitlosigkeit nichts merken.
Tom sprach über Evelyn Waugh, Graham Greene, Dylan Thomas. Er gestikulierte mit lebhaften Bewegungen, seine Gesichtszüge waren lebendig. In was für verschiedenen Welten sie lebten, ging es ihr durch den Kopf. Sie mit ihren Wäschelisten und Rechnungen, er mit seinen Büchern und Metaphern. Sie schaufelte Chips auf seinen Teller, und er schlang sie hungrig und gedankenlos hinunter, ohne mit dem Reden aufzuhören.
Mit der Untergrundbahn fuhren sie an die Themse und gingen am Embankment entlang. Sie stützten ihre Ellbogen auf die Mauer und sahen zu den Booten hinaus, die auf dem stürmischen Wasser schaukelten. Das Licht der Straßenlampen zerfiel, von den Kräuselwellen reflektiert, in glitzernde Rauten.
»Ich habe den Roman aufgegeben.« Toms Augen waren schmal, der Wind riß an seinem Haar. »Es hat keinen Sinn. Ich weiß es.«
»Ach, Tom«, sagte sie.
»Es macht nichts.«
»Was willst du jetzt tun? Suchst du dir eine Arbeit?«
»Das wäre Kapitulation.«
Er trug Jakes alte Jacke, die er von ihr bekommen hatte. An einem seiner Schuhe begann sich die Sohle vom Oberleder zu lösen. Als er im Café auf der Suche nach Münzen für ein Trinkgeld seine Taschen geleert hatte, hatte er nur zwei Shillinge und ein paar Pennys gefunden. Und das war, vermutete sie, alles Geld, was er besaß.
Plötzlich packte sie Zorn, aber gleich schämte sie sich dieser Aufwallung. Es war schließlich Toms Entscheidung. Wenn er sich für die Armut entschied, wenn er sich dafür entschied, keiner geregelten Arbeit nachzugehen, abgelaufene Schuhe zu tragen und verdorbene Fischpaste zu essen, dann schadete er damit keinem außer sich selbst. Oder schämte sie sich seiner vielleicht? War das die Wurzel ihres Ärgers, dieser ständigen zermürbenden Stimmungsschwankungen? Konnte es sein, daß sie, Romy Cole, die wußte, was es hieß, nach seinen abgetragenen Kleidern beurteilt zu werden, sich ihres schäbig gekleideten Liebhabers schämte? War das der Grund für dieses fortgesetzte Unbehagen und diese nagende Unzufriedenheit?
In einem Pub in Blackfriars kaufte Tom mit seinen letzten Shillingen zwei Bier. Er verfiel in Schweigen, während sie tranken, und drehte geistesabwesend einen losen Knopf an seiner
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