Das Erbe des Vaters
Jem zum Tresen ging. Als er wiederkam, sagte sie: »Wieso mußtest du herumfahren?«
»Ich mußte Sachen liefern.« Er stellte das Tablett ab. »Und wegbringen.«
»Was für Sachen?«
»Romy!« Er setzte sich, nahm eine Tabaksdose heraus und drehte sich eine Zigarette. »Tu doch nicht so«, sagte er leise. »Du bist doch angeblich die mit Köpfchen.«
Er starrte ins Leere, während er rauchte. Sie sah die Scham in seinen Augen.
»Du hast doch nicht gestohlen, Jem«, flüsterte sie.
Er schloß die Augen. Dann sagte er ruhig: »Als ich mit dem Militär in Hamburg war, hab ich ein paar Leute kennengelernt, die sagten, sie hätten ein Geschäft in Brighton. Sie sagten, sie bräuchten jemanden, der Auto fahren kann. Zuerst habe ich für einen Buchmacher gearbeitet. Das war okay.«
Er schien einen Moment zu brauchen, um seinen Mut zusammenzuraffen, dann fuhr er hastig fort: »Aber da sind auch – andere Dinge gelaufen. Am Anfang hab ich mir nicht viel dabei gedacht. Ich mußte Flaschen mit Alkohol aus Restaurants holen. Ich wußte, daß es um irgendwelche Schiebereien ging, aber ich hab’s nicht so schlimm gefunden. Aber dann –« er holte tief Luft –, »dann sollte ich ihnen bei einem Einbruch in ein Lagerhaus helfen. Ich sollte den Wagen fahren. Als ich mich geweigert habe, haben sie mich in die Mangel genommen. Und da hab ich dann mitgemacht.« Er zog an seiner Zigarette. »Ich hatte Angst, Romy.«
»O Gott, Jem, was hast du dann getan?«
»Ich bin getürmt. Seit einem Monat bin ich wieder in London. Übernachtet hab ich auf Parkbänken.«
»Du hättest gleich zu mir kommen sollen«, sagte sie heftig. »Du weißt, ich habe immer Platz für dich.«
Er richtete sich gerade auf und sah ihr in die Augen. »Ich wollte erst mein Leben ein bißchen in Ordnung bringen. Ich wollte was vorweisen können. Jetzt habe ich Arbeit, Romy. Eine richtige Arbeit bei einem Kohlenhändler in Blackfriars. Ich kümmere mich um die Pferde. Es sind schöne Tiere, keine halb zu Tode gearbeiteten Schindmähren. Und –« Jems Augen leuchteten auf – »ich habe ein Mädchen kennengelernt.«
»Jem!« Sie drückte seine Hand. »Erzähl! Wie ist sie? Ist sie hübsch?«
»Sie ist schön«, sagte er schlicht. »Sie heißt Liz. Wir haben uns oben in einem Doppeldeckerbus kennengelernt. Ich mußte wegen Sandy rauf, das ist mein Hund. Arthur ist gestorben, aber Sandy ist ein Klassehund. Liz saß ganz vorn. Wir haben angefangen, miteinander zu reden – Liz liebt Hunde, aber sie kann keinen haben, weil sie bei ihren Eltern lebt und das Haus zu klein ist.« Er lachte. »Wir haben so viel geredet, daß ich an meiner Haltestelle vorbeigefahren bin.«
Sie lernte Liz einige Tage später kennen. Sie trafen sich zum Essen in einem kleinen Café in Soho, einem von vielen kleinen Lokalen, die in letzter Zeit wie die Pilze aus dem Boden schossen. Auf den Tischen standen Kerzen in Korbflaschen. An den Wänden klebten große Plakate, die blaues Meer, sonnige Strände und einen knallblauen Himmel zeigten, und in einer Ecke hingen von einem Haken an der Decke zwei Sombreros herab.
Liz war klein und dunkel, gerade siebzehn Jahre alt. Das schwarze Haar hatte sie zum Pferdeschwanz gebunden, und ihre blauen Augen wirkten nervös und mißtrauisch, außer wenn sie auf Jem gerichtet waren. In der einen Hand hielt sie eine Zigarette, mit der anderen drehte sie an einem lose sitzenden Knopf ihrer Popelinbluse, während sie schnell und in kurzen Salven sprach. »Schön, die Tischtücher. Ich hab mir aus so einem Karo einen Rock gemacht. Die Speisekarte ist französisch – ich versteh kein Wort. Crêpes – was ist das?«
»Pfannkuchen«, erklärte Romy.
Liz strich mit den Fingern über das aufgelegte Besteck und sah Jem hilfesuchend an.
Romy hatte den Eindruck, daß Liz ein gutherziges Ding war. Daß sie Jem liebte, war nicht zu übersehen. Immer suchten ihre dünnen kleinen Finger den Kontakt mit ihm, berührten seinen Arm oder seine Wange oder schoben sich in seine Hand. Die Naivität und die Flattrigkeit, die Romy schnell ungeduldig gemacht hätten, machten sie ihm um so lieber. Wenn Jem jemanden hatte, für den er sorgen konnte, brachte das seine besten Seiten zum Vorschein.
Bournemouth war in diesem Winter starr und kalt, und manchmal wurde es von Stürmen geschüttelt. Venetia schien im Lauf der Monate immer gebrechlicher zu werden, als zehrten der Winter und die Kälte an ihrem alternden Körper. Kurz nach Weihnachten stürzte sie und brach
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