Das Erbe des Vaters
ein nachdenkliches Gesicht. »Vielleicht solltest du dich ein bißchen zurückhalten. Vorläufig erst mal. Damit Ray sich langsam an den Gedanken gewöhnen kann, daß Liz einen anderen hat.«
»Das geht nicht.«
»Warum nicht?«
Er stieß den Stock in den Boden. »Liz glaubt, daß sie schwanger ist.«
Sie starrte ihn fassungslos an. »Schwanger? O Gott, Jem. Ist sie sicher?«
»Sie ist ein paar Wochen zu spät dran.«
»Wie viele?«
Er schaute weg. »Sechs.«
»Jem, du Idiot –«
Stöhnend griff er sich mit beiden Händen in das volle dunkle Haar. Dann sagte er: »Wir wollten sowieso heiraten. Wir wollten nur warten, bis ich ein bißchen was zusammengespart habe.«
Liz, die selbst noch ein halbes Kind war, würde ein Kind bekommen. Jem würde sie und das Kind von dem Lohn ernähren müssen, den er bei dem Kohlenhändler bekam. Romy stellte sich Jem, Liz, das Kind und den Hund in dem kleinen Zimmer vor, in dem Jem zur Untermiete wohnte.
»Gerade jetzt, wo du angefangen hast, dein Leben in Ordnung zu bringen«, sagte sie. Sie empfand Wut und Mitleid zugleich. »Gerade jetzt, wo du eine Unterkunft und eine Arbeit gefunden hast, die dir Spaß macht.«
Jem pfiff nach dem Hund, einem Mischling aus Collie und Greyhound, der aus dem Teich sprang und sich schüttelte. Die Wassertropfen glänzten in Regenbogenfarben im Sonnenlicht.
»Es wird schon alles gutgehen«, sagte er mit plötzlicher Zuversicht. »Liz liebt Kinder. Und ich liebe Liz. Es wird schon klappen, nicht wahr, Sandy?« Lächelnd kraulte er den schmalen Hals des Hundes.
Die ganze Zeit über hielt Evelyn nach Hugo Ausschau. Bei Cocktailpartys und Essenseinladungen, im Zug und beim Einkaufen, stets schweifte ihr Blick wie magisch angezogen zu einer großgewachsenen Gestalt mit hellbraunem Haar und breiten Schultern. Einen herrlichen Moment lang blühte die Hoffnung, bis sie erkannte, daß es nicht Hugo war, und sich enttäuscht abwandte. Sie hatte ihn schon seit Monaten nicht mehr gesehen und sich mittlerweile an die Enttäuschung gewöhnt.
Als sie deshalb beim Einkaufen in Hungerford Hugo aus dem Zeitungsladen in der Bridge Street treten sah, glaubte sie zuerst, sie irre sich. Aber dann drehte er sich um, und sie erkannte ihn eindeutig. Ihr Herz schien einen Schlag auszusetzen. Sie winkte und rief ihn mit einer Stimme, die vor Aufregung heiser war.
»Evelyn«, sagte er. »Wie geht es Ihnen?«
»Ach, ganz gut eigentlich.«
»Keine Reifenpannen mehr?«
Sie schüttelte den Kopf. »Wie schön, Sie zu sehen, Hugo. Es ist so ein herrlicher Tag. Waren Sie Einkaufen? Ich dachte, Sie müßten im Büro sein.« Sie wußte, daß sie ganz rot im Gesicht war und viel zuviel redete.
»Ich durfte heute früher nach Hause gehen«, antwortete er lächelnd. »Ich habe immer gehofft, wir würden uns einmal sehen. Ich muß Ihnen etwas sagen, Evelyn.«
Ihr stockte der Atem. Hundert-, ach was, tausendmal, hatte sie sich diesen Moment in ihrer Phantasie ausgemalt. Sie würden sich begegnen, und er würde ihr sagen, daß er sie liebte. Ich muß Ihnen etwas sagen, Evelyn .
Es dauerte einen Moment, ehe sie begriff, daß er von Kanada sprach, ausgerechnet von Kanada. »Es ist eine großartige Chance«, sagte er. »Morwenna ist ja in Kanada aufgewachsen. Und so richtig eingelebt haben wir uns in Berkshire nie. Es hatte natürlich seine Vorteile – gute Freunde –«, ein herzliches Lächeln –»und ein kurzer Weg zur Arbeit, aber richtig warm geworden sind wir hier nie. Darum war ich – ich muß wirklich sagen, es hat mich fast umgeworfen, als Pagett mir den Posten in Toronto anbot. Ich hätte nie gedacht … Wenn man einmal die Vierzig überschritten hat, meint man ja leicht, das Leben wäre gelaufen, nicht wahr?«
Während er sprach, starb die Hoffnung. Das Licht, das kurze Zeit ihr Leben erhellt hatte, schwand, das vertraute Grau war zurück. Er würde fortgehen. Er würde England verlassen und Tausende von Kilometern entfernt auf einem neuen Kontinent ein neues Leben beginnen. Sie würde ihn nie wiedersehen.
Er schwieg. Den Blick auf sie gerichtet, wartete er, daß sie etwas sagen würde. Aber sie konnte in der Wüste ihres Herzens keine Worte finden.
»Ist Ihnen nicht gut, Evelyn?« fragte er besorgt.
Dieses eine Mal, sagte sie sich erbittert, nur dieses eine Mal finde den Mut. Den Mut, dir deine Würde und seine Freundschaft zu erhalten.
»Doch, doch, alles in Ordnung«, sagte sie leise. Sie lächelte mit starren Lippen. »Das sind ja wunderbare
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