Das Erbe des Vaters
zuletzt was gegessen?« fragte er.
Sie hob den Kopf, Leere in den rot verschwollenen Augen. »Ich weiß nicht mehr …«
»Komm. Ich kenne ein Lokal, wo man frühstücken kann.« Er nahm sie bei der Hand und führte sie über die Straße.
»Ich kann jetzt nichts essen.« Es klang ärgerlich.
»Du mußt aber essen. Du kannst nicht klar denken, wenn du nicht ißt. Und du kannst deinem Bruder nicht helfen, wenn du nicht klar denken kannst.«
Er ging mit ihr in ein Café und bestellte Tee und Toast. Er redete so lange auf sie ein, bis sie den Tee trank und den Toast aß. Als ihr Gesicht wieder etwas Farbe bekommen hatte, sagte er: »Du sagst, es war ein Unfall?«
»Jem hat behauptet, er wollte weg. Er sagt, Ray Babbs habe ihn nicht in Ruhe gelassen, und er wollte ihn nicht verletzen.«
»Worum ging es bei dem Streit überhaupt?«
Sie zerkrümelte ein Stück Toast zwischen ihren Fingern. »Jems Freundin war mal mit Babbs verlobt. Sie – Liz – ist schwanger, und Babbs hatte das gerade erfahren.«
»Die Polizei hat Jem wahrscheinlich nur vorsichtshalber festgenommen. Damit er nicht abhaut, bis sie ermittelt haben, was wirklich passiert ist.«
»Meinst du?« Zum erstenmal sah er einen Funken Hoffnung in ihren Augen. »Und wenn sich zeigt, daß er die Wahrheit gesagt hat, lassen sie ihn dann frei?«
Die ganze Geschichte schien ihm zu verschwommen, voll von schlimmen Möglichkeiten. Eine schwangere Frau, die mit zwei Männern zu tun gehabt hatte, und ein Streit, bei dem der eine so ungleich viel schlechter davongekommen war als der andere. Vorsichtig sagte er darum: »Du mußt abwarten, Romy. Nimm einfach immer einen Tag nach dem anderen. Und in der Zwischenzeit mußt du Jem einen guten Anwalt besorgen.«
»Einen Anwalt?« Die Angst war zurück.
»Das ist das beste.«
»Ich kenne keine Anwälte.«
»Ich frage meinen Freund Alec, wenn du willst. Er studiert Jura. Vielleicht kennt er jemanden.«
»Ach ja, bitte, Caleb.«
»Hat Jem Geld?« Er mußte die Frage stellen, obwohl er sich die Antwort denken konnte.
Sie schüttelte den Kopf.
»Und deine Mutter?«
»Ach Gott«, sagte sie. »Muß ich meiner Mutter Bescheid sagen?«
»Ich denke, ja.«
»Vielleicht ist es besser, ich warte erst mal ab.« In ihren Augen stand Panik. »Wenn sie ihn in ein oder zwei Tagen freilassen … Ich will sie nicht unnötig in Angst versetzen.«
»Wie du meinst. Wegen des Anwalts …«, hakte er nach.
»Meine Mutter hat kein Geld. Aber ich habe was gespart.« Sie sah ihn an. »Ich habe fast hundertzwanzig Pfund, Caleb. Meinst du, das reicht?«
»Wahrscheinlich.« Er hatte keine Ahnung, nur den Verdacht, daß Anwälte unheimlich teuer waren. Er sah auf seine Uhr. »Ich rufe Alec in zwei Stunden an.«
»Danke.« Sie richtete ihren ängstlichen Blick wieder auf ihn. »Und du nimmst es mir nicht übel –«
»Was denn?«
»– daß ich zu dir gekommen bin.«
»Aber nein, natürlich nicht.«
»Ich mußte einfach mit jemandem reden«, erklärte sie hastig. Sie berührte kurz seine Hand, ein kleines Lächeln flog über ihr Gesicht, aber es verschwand gleich wieder. »Ach, Caleb«, rief sie, »ich könnte es nicht ertragen, wenn Jem etwas geschieht.«
»Ihm wird nichts geschehen«, sagte er zuversichtlich, obwohl er so zuversichtlich gar nicht war. Er stand auf. »Du solltest nach Hause fahren, Romy. Leg dich ein bißchen hin.«
Vor der Tür des Cafés blieb sie stehen. »Ich habe Jem dazu überredet, zur Polizei zu gehen«, sagte sie voll Bitterkeit. »Er wollte verschwinden, aber ich habe ihn gezwungen, zur Polizei zu gehen. Ich nahm an, das wäre richtig. Wie konnte ich das nur glauben, Caleb, nach dem, was meinem Vater passiert war? Die Polizei hat damals meinem Vater nicht geholfen, warum hätte sie heute Jem helfen sollen?«
»Mach dir jetzt erst mal keine Sorgen«, sagte er. »Es wird schon alles gut werden.« Und er fragte sich wieder, ob er ihr gegenüber ehrlich war.
Caleb wartete bis neun, dann rief er Alec an, der zuerst stöhnte, er sei völlig verkatert, dann aber doch sehr hilfreich war. Er versprach, sich umzuhören, und sich dann wieder bei Caleb zu melden. Danach rief Caleb auf der Polizeidienststelle an und im Bart’s Hospital. Beide Anrufe brachten nichts, aber am Ende des Tages hatte er für Jem, der immer noch in Polizeigewahrsam war, einen Anwalt gefunden, einen trockenen Mann namens Rogers. »Er ist wahnsinnig langweilig«, teilte Alec Caleb am Telefon mit, »aber er ist ein guter Anwalt. Sehr
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