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Das Erbe des Vaters

Das Erbe des Vaters

Titel: Das Erbe des Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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führten sie stundenlange Gespräche, die nur von Zeit zu Zeit vom Einschieben weiterer Münzen, dem Klicken irgendwelcher Schaltungen und der fernen Stimme der Frau, die in der Vermittlung saß, unterbrochen wurden. Es war heiß und stickig in der Telefonzelle, der Boden war mit Zigarettenkippen und den Einwickelpapierchen von Süßigkeiten übersät. Manchmal mußten sie aufhören, wenn jemand an die Tür klopfte und telefonieren wollte. Sobald die Zelle wieder frei war, nahmen sie das Gespräch dort wieder auf, wo sie es abgebrochen hatten.
    Zuerst sprachen sie immer über Jem: was Mr. Rogers gesagt hatte, und ob es bei Ray Babbs irgendwelche Anzeichen einer Besserung seines Zustands gab. Dann wandte sich das Gespräch dem Hotel oder Calebs Arbeit zu. Später konnte sich Romy nicht immer an alles erinnern, worüber sie gesprochen hatten. Manchmal hatte sie den Eindruck, daß sie eine geschlagene Stunde lang über nichts geredet hatten. Und manchmal hatten sich, wenn sie den Hörer einhängte, die inneren Spannungen, die sich im Lauf des Tages in ihr aufgebaut hatten, gelockert. Wenn sie lange genug redeten, kam es sogar vor, daß sie nachts schlafen konnte.
    An dem Abend an dem Ray Babbs’ Zustand sich verschlechterte, trafen sie und Caleb sich in einem Pub in Belsize Park. Es war ein altmodisches kleines Lokal mit einer dunklen Gaststube. Von ihren Bekannten ging dort nie einer hin. Aber das war ihr recht; sie wollte Anonymität und Ungestörtheit. Und sie brauchte etwas zu trinken. Alkohol würde vielleicht ihren schlimmsten Gedanken die Schärfe nehmen. Hätte sie sich allein ins Pub gesetzt und getrunken, so hätte sie unwillkommene Aufmerksamkeit auf sich gezogen; darum nahm sie Calebs Angebot, sie zu begleiten, an, wobei sie sich bewußt war, daß er der einzige Mensch war, dessen Gesellschaft sie im Augenblick ertragen konnte. Er spürte instinktiv, ob sie reden wollte oder nicht. Er war so unaufdringlich wie niemand sonst, den sie kannte, ein Mensch, der Schweigen aushalten konnte und sich nicht genötigt fühlte, es zu brechen.
    Er hatte ihr am Ufer des Bachs, der am Fuß des Gartens in Newbury vorbeifloß, einen Strauß Iris gepflückt. Die Blumen lagen jetzt auf der Bank neben ihr, leuchtend auf dem abgewetzten braunen Mokett. Später fühlte sie sich beim Anblick gelber Iris stets an diesen irrealen Abend erinnert und an die Angst, die ihn beherrscht hatte. Immer derselbe Gedanke ging ihr im Kopf herum: Was würde geschehen, wenn Ray Babbs starb? Würde Jem gehängt werden? Sie wurde die ferne Erinnerung an Combe Gibbet nicht los, den Galgen, der wie ein böser Wächter auf der Höhe des Inkpen Hill stand. Das alte Gefühl, daß die Welt aus dem Lot geraten war, daß alles Vertraute nichts mehr galt, war wieder da. Sie war angespannt bis ins letzte Nervenende. Wenn jemand sie anrempelte oder auch nur ein falsches Wort zu ihr sagte, fürchtete sie, sie würde sich auflösen.
    Der Whisky brannte in ihrer Kehle. Sie hatte noch nicht gelernt, dachte sie, einen Drink nach dem anderen in sich hineinzugießen und auf diese Weise die düsteren Gedanken zu vertreiben. Trotzdem machte sie weiter, weil sie irgendwie den Schmerz betäuben wollte.
    Sie brauchte zwei Drinks, um dem Gedanken Ausdruck zu geben, der sie seit Tagen nicht losließ. »Ich denke ständig«, sagte sie zu Caleb, »daß es meine Schuld ist. Daß ich vielleicht zu streng mit Jem war, als ich ihn hätte trösten sollen. Oder daß ich vielleicht zu weich war – ihm aus der Patsche geholfen habe, wenn es besser gewesen wäre, ihn die Suppe selbst auslöffeln zu lassen, die er sich eingebrockt hatte.«
    Sie hatte das Gefühl, daß manche Menschen im Leben immer wieder auf die Füße fielen und nichts ihnen etwas anhaben konnte, während andere, Menschen wie Jem, jede Ecke und scharfe Kante mitnahmen.
    Als das Pub schloß, brachte Caleb sie in ihre Wohnung zurück, und sie war wieder allein. Ihre Lider waren schwer, aber sie hatte Angst, wenn sie sie schlösse, würde sie wieder im grünen Schrank landen, den Lichtkreis im Auge, der alles Schlimme und Beängstigende umfaßte. Vielleicht liegt Ray Babbs im Sterben, dachte sie. Vielleicht tut er gerade seinen letzten Atemzug. Sie war es so müde, immerzu Angst zu haben.
    Sie erinnerte sich an Jem, den vergnügten kleinen Jungen, der er in Middlemere gewesen war. Middlemere, dachte sie bitter. Immer und immer wieder endete es in Middlemere. Sie sah den Fußweg am Feldrain vor sich, die Abkürzung,

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