Das Erbe des Vaters
die Jem und sie zur Schule genommen hatten. Sie sah das wogende Getreide, den roten Klatschmohn und den Zauntritt inmitten von Brennesseln und dornigem Gestrüpp, der die Grenze zwischen dem Wäldchen und dem Fußweg überbrückte.
Sie schlief ein. Als sie am Morgen erwachte, dachte sie: Jem! und rannte nach unten zur Telefonzelle. Sie hatte merkwürdigerweise überhaupt keine Angst, als sie Mr. Rogers’ Nummer wählte. Es war, als hätte sich über Nacht etwas geändert, als hätte etwas seinen Platz gefunden.
Es gäbe endlich erfreulichere Nachricht, teilte Mr. Rogers ihr mit. Ray Babbs war auf dem Weg der Besserung. Er hatte an diesem Morgen die Augen geöffnet und Schinken und Würstchen zum Frühstück verlangt. Romy hängte ein. Ihr war, als wäre sie aus einem finsteren Ort ans Licht gelangt. Als sie aus der Telefonzelle trat, fühlte sie die warme Sonne in ihrem Gesicht.
Evelyn sah Dr. Lockharts Wagen vor dem Haus stehen, als sie am Nachmittag vom Einkaufen zurückkam. Sie begrüßte den Arzt und bot ihm eine Tasse Tee an.
»Oh, machen Sie sich meinetwegen keine Mühe, Evelyn«, sagte er jovial. »Ich sagte allerdings gerade zu Osborne, daß ich Ihren schönen Rosengarten schon lange nicht mehr gesehen habe. Hätten Sie einen Moment Zeit, um ihn mir zu zeigen?«
Nervensäge, dachte sie; als wäre es nicht weit mehr Mühe, ihn durch den Rosengarten zu führen als eine Tasse Tee zu machen. Und dabei blühten die Rosen noch gar nicht. Aber sie willigte höflich ein.
Der Rosengarten, von einer Steinmauer aus dem siebzehnten Jahrhundert umgeben, die den Brand überlebt hatte, befand sich vor dem Haus, neben der Einfahrt. Kletterrosen rankten sich an Mauern und Spalieren empor; Buschrosen, Stöcke und Bäumchen wuchsen in den hübsch angelegten Beeten. Die Wege, die sich zwischen den Beeten hindurchwanden, waren mit Backsteinen im Fischgrätenmuster gepflastert. In der Mitte des Gartens stand eine große, steinerne Urne, die Osbornes Mutter dort zur Erinnerung an Osbornes älteren Bruder, der im Ersten Weltkrieg gefallen war, aufgestellt hatte.
Dr. Lockhart sagte: »Ich habe Sie lange nicht gesehen, Evelyn.«
»Weihnachten – und in der Kirche –«
»Ich meinte, in beruflicher Eigenschaft.«
Wichtigtuer, dachte sie und sagte ziemlich schnippisch: »Weil es mir gutgeht.«
»Das freut mich, Evelyn. Osborne ist allerdings etwas besorgt um Sie, wie er mir sagte. Er meint, Sie machten einen müden Eindruck.«
Das bestürzte sie. »Nun ja, meine Mutter –«
»Ein wenig … unausgeglichen.«
»Unausgeglichen?«
»Hm, schwankend in Ihren Stimmungen.«
»Also, ich –«
»Er meint, Sie kommen in letzter Zeit mit dem Alltag nicht so gut zurecht.«
Sie entgegnete scharf: »Ich komme sehr gut zurecht.«
»Wirklich, Evelyn? Sind Sie sicher?« Er sah sie mit seinen hellen austerfarbenen Augen auf eine Art an, die ihr Unbehagen einflößte. »Die Hausarbeit. Osborne meint, Sie vernachlässigen die Hausarbeit.«
»Das ist ja lächerlich!« sagte sie hitzig. Sie hatten die dunkelste, feuchteste Ecke des Gartens erreicht. Sie bemerkte einen schwarzen Mehltaufleck auf einem Rosenblatt und nahm sich vor, Fryer darauf aufmerksam zu machen. »Was für einen Sinn hat es überhaupt, die Hausarbeit zu erledigen, wenn man genau weiß, daß man sie am nächsten Tag wieder vor sich hat?«
Sie wußte sofort, daß sie das Verkehrte gesagt hatte. Er lachte ein wenig und erwiderte in gönnerhaftem Ton: »Tja, ich fürchte, das liegt nun einmal in der Natur der Sache, Evelyn. Mir geht es mit meiner Arbeit ganz ähnlich, wissen Sie. Tagtäglich betet man Frauen, die keine Ahnung haben, wie man ein Kind versorgt, geschweige denn sechs, den gleichen Sermon herunter. Aber wir müssen eben alle unsere Pflicht tun, nicht wahr?«
»Ach, und meine Pflicht ist es, den Dreck wegzuputzen, den Osbornes Handwerker hinterlassen?«
Wieder dieser prüfende Blick. »Wie haben Sie sich denn in letzter Zeit gefühlt, Evelyn? Ein wenig labil vielleicht?«
»Sehr wohl«, entgegnete sie erbost. »Ich habe mich sehr wohl gefühlt.«
»Ich hoffe, Sie wissen, daß Sie mit mir über alles sprechen können, meine Liebe. Ich kenne sie schließlich seit Jahren. Sowohl als Arzt wie als Freund. Wenn irgend etwas Sie beschäftigt, Sie in irgendeiner Hinsicht bedrückt, können Sie immer zu mir kommen.« Er blieb neben einer von Flechten überwachsenen Steinfigur stehen. »Ich sehe in meiner Sprechstunde viele Frauen wie Sie, Evelyn. Frauen,
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