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Das Erbe des Vaters

Das Erbe des Vaters

Titel: Das Erbe des Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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denen alles ein bißchen schwer wird; die jahrelang all ihre Pflichten zufriedenstellend erfüllt haben und plötzlich Probleme bekommen. Ich sage ihnen immer –« wieder dieses kleine Lachen –, »sie sollen sich vorstellen, sie wären ein Zug, der ins Depot fährt. Ein bißchen Öl, einige kleinere Reparaturarbeiten, und schon sind sie wieder auf dem Damm.«
    Sie mußte sich abwenden, um das verräterische Zucken ihres Mundes zu verbergen. Das Bild, das er heraufbeschworen hatte, war einfach zu komisch: sie als stampfende Lokomotive, vielleicht noch mit einer Perlenkette um den eisernen Hals.
    Er redete immer noch, in einem schier endlosen Monolog, der an der alten Gartenmauer abprallte. »Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Es gibt heutzutage viele Möglichkeiten zu helfen, wenn die üblichen Mittel nicht anschlagen. Wir befinden uns nicht mehr im Mittelalter. Niemand braucht schweigend zu leiden.«
    »Sie halten mich für krank. Aber ich bin nicht krank – ich habe kein Fieber – keine Schmerzen –«
    Er lächelte. »Es gibt Krankheiten anderer Art. Die sogenannte Hausfrauenneurose zum Beispiel. Aber es ist gar nicht nötig, daß Sie sich mit langen Namen herumschlagen, meine Liebe.«
    Sie starrte ihn an. »Sie halten mich für verrückt? Hat denn Osborne Ihnen erzählt, ich wäre nicht mehr ganz bei Trost?« Ihre Stimme schwankte.
    »Osborne hat mich lediglich gebeten, mit Ihnen zu sprechen. Und wie ich schon sagte, es gibt keinen Anlaß zur Sorge für Sie. Wir haben viele Möglichkeiten, um Sie wieder hinzukriegen. Ich rate den Damen immer, sie sollen es einmal mit einem Stadtbummel versuchen. Sich einen neuen Hut kaufen, irgend etwas Hübsches. Joan hat mir erklärt, daß ein neuer Hut Wunder wirken kann. Und wenn das nicht hilft, ist immer noch die moderne Medizin da.«
    Er zog etwas aus seiner Tasche. »Ich habe Ihnen gleich eine kleine Probe mitgebracht«, sagte er und hielt ihr ein Fläschchen mit Tabletten hin.
    Sie ließ es in ihre Hand gleiten, fühlte das kühle Glas an ihrer Haut.
    »Die müßten eigentlich wirken«, sagte er. »Und wenn nicht, gibt es noch andere Dinge, die wir versuchen können.«
    Nachdem sie Dr. Lockhart zu seinem Wagen gebracht hatte, ging sie nach oben in ihr Zimmer. Sie stellte sich vor den Ankleidespiegel und betrachtete sich: blasses Gesicht, Tweedrock, Twinset, Perlenkette. Ihr Busen und ihre Hüften waren ausladender, als ihr recht war, und es war viel Grau in ihrem blonden Haar.
    Sie fühlte sich ausgelaugt und tief gedemütigt. Ich bin die Karikatur der gutbürgerlichen Engländerin in mittleren Jahren, dachte sie mit bitterem Spott. Sie hatte geglaubt, ihre Gefühle gut zu verbergen, aber wenn selbst Osborne, der weiß Gott nicht der aufmerksamste war, gemerkt hatte, daß bei ihr etwas nicht in Ordnung war, wer hatte dann sonst noch das Auf und Ab ihrer Gefühle wahrgenommen? Der Pfarrer vielleicht oder die Zugehfrau? Josephine Maxey oder Anne Radcliffe? Oder war vielleicht sogar Hugo selbst eine gewisse Unbeherrschtheit an ihr aufgefallen?
    Sie erinnerte sich, daß sie nicht nur einmal, sondern zweimal vor Hugo geweint hatte – einmal bei diesem grauenvollen Abendessen, als Mrs. Vellacott ihre Zigarettenasche in die Suppe geschnippt hatte, und das zweite Mal auf dem Bahnhof, beim Abschied von Kate. Was mußte er von ihr gedacht haben, dieser alternden, gefühlsduseligen Frau mit ihrem unverhüllten Bedürfnis nach Aufmerksamkeit und Zuwendung? Hatte er sie für komisch oder für peinlich gehalten? Hatte er sie bemitleidenswert gefunden oder nur lächerlich? Wie hatte sie auch nur eine Sekunde lang glauben können, er würde ihre Liebe erwidern?
    Es war, dachte sie, während sie sich kritisch betrachtete, tatsächlich ein ziemlich irrer Ausdruck in ihrem Gesicht, etwas Verrücktes in ihren Augen. Und was sie gedacht und geglaubt hatte, war ja auch verrückt gewesen. Sich mit dem Schicksal nicht abfinden zu können und sich dann auch noch zu verlieben! Großer Gott, in ihrem Alter!
    Sie nahm das Fläschchen mit den Tabletten aus ihrer Tasche. Sie schepperten im Takt mit dem Zittern ihrer Hand. Die müßten eigentlich wirken, hatte Dr. Lockhart gesagt. Und wenn nicht, gibt es noch andere Dinge, die wir versuchen können. Was hatte er damit gemeint? Wollten sie sie zu einem Psychiater schicken oder in eine Nervenklinik verfrachten? Würden sie versuchen, Geist und Körper mit Elektroschocks wieder in Gleichmut und Fügsamkeit zu pressen?
    Sie öffnete das

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