Das Erbe des Vaters
gerutscht.
Mrs. Plummers Augen waren zusammengekniffen, ihre Haut war wachsbleich. »Meine Tabletten«, stieß sie schwer atmend hervor. »Meine Tabletten – in meiner Handtasche …«
Die dunkelblaue Handtasche lag auf dem Schreibtisch. Romy öffnete sie, wühlte zwischen Geldbörse, Puderdose, Taschentuch und Adreßbuch und fand das Döschen mit den Tabletten.
»Zwei«, flüsterte Mrs. Plummer. Ihre Hand griff verzweifelt in die Luft. Romy drückte ihr zwei Tabletten in die eisigen Finger.
Als Mrs. Plummer sie geschluckt und etwas Wasser getrunken hatte, sagte Romy: »Ich rufe den Arzt an.«
»Nein. Keinen Arzt.«
»Das ist doch absurd«, entgegnete sie ärgerlich. »Sie sind krank.« Entschlossen, Mrs. Plummer zu trotzen, griff sie nach dem Türknauf.
»Sie können nichts mehr tun.«
In Mrs. Plummers Ton lag eine gefaßte Endgültigkeit, die Romy veranlaßte, sich umzudrehen. »Das kann nicht stimmen. Bitte, Mrs. Plummer, lassen Sie mich einen Arzt anrufen.«
Langsam und vorsichtig, die Hand auf den Magen gedrückt, richtete Mrs. Plummer sich auf. In ihrem Blick lagen Bedauern und Schmerz. Ruhig sagte sie: »Nach dieser letzten Operation haben mir die Ärzte gesagt, daß sie nichts mehr für mich tun können.«
»Aber Sie haben mir doch erzählt, es wäre nur eine Kleinigkeit. Sie haben gesagt, es wäre ein bißchen peinlich. Sie haben gesagt –«
»Romy, mein Kind, mit mir geht es zu Ende.« Mrs. Plummer runzelte die Stirn. »Ach, so wollte ich es Ihnen eigentlich nicht sagen. Ich wollte es Ihnen überhaupt nicht sagen. Sie haben Sorgen genug.« Sie schloß einen Moment die Augen und versuchte, ruhig und gleichmäßig zu atmen. »Romy, mein Kind, setzen Sie sich. Hören Sie mir zu, bitte.«
Romy setzte sich. »Es geht nicht zu Ende mit Ihnen«, sagte sie. Ihre Stimme zitterte. »Sie können doch jetzt nicht sterben. Sie sind viel zu jung dazu.«
»Es ist lieb, daß Sie das sagen, aber es stimmt leider nicht.« Mrs. Plummer öffnete die Augen und sah Romy an. »Ich weiß schon seit einigen Jahren, daß ich Krebs habe. Das erste Mal wurde ich nicht lange vor unserem ersten Zusammentreffen in Mr. Gilfoyles Kanzlei operiert. Deswegen beschloß ich damals, mein Testament zu machen. Ich habe sowieso noch großes Glück gehabt. Ich glaubte schon, ich hätte die Krankheit besiegt.« Sie machte eine Pause, um neue Kraft zu schöpfen. »Aber Weihnachten begann ich mich wieder schlecht zu fühlen. Anfangs dachte ich, es wären Verdauungsstörungen – vom üppigen Essen. Aber als ich mich im Krankenhaus untersuchen ließ, sagte man mir, daß es wieder der Krebs ist. Machen Sie nicht so ein Gesicht, Kind«, sagte sie liebevoll. »Es ist keine Tragödie. Ich hatte ein schönes Leben. Ein reiches Leben. Ich hätte es gern ein wenig länger gehabt, aber man kann nicht alles haben.« Sie berührte Romys Hand. »Sie müssen mir versprechen, daß Sie keinem etwas sagen, Romy.«
»Aber – was ist mit Johnnie? Dem haben Sie es doch erzählt?«
Mrs. Plummers Gesicht hatte wieder etwas Farbe bekommen. »Johnnie darf es auf keinen Fall erfahren«, sagte sie. »Er hat Angst vor Krankheit und Siechtum. Seine Mutter ist jahrelang dahingesiecht, ehe sie endlich starb.« Mrs. Plummer klappte ihre Puderdose auf und sah in den kleinen Spiegel. »Ich bin beinahe zehn Jahre älter als er, Romy. Lange Zeit spielte das keine Rolle. Ich hielt mich jung für ihn. Ich habe ihm mein wahres Alter nie verraten. Was sollte er mit einer alten, kranken Frau?«
Sie klappte die Puderdose wieder zu, und ihre durchdringenden, müden Augen richteten sich wieder auf Romy. »Ich wünschte, Sie und Johnnie würden sich besser verstehen. Er hat mir erzählt, daß Sie eine kleine – Meinungsverschiedenheit hatten.«
»Es tut mir leid«, sagte Romy leise. »Ich habe die Beherrschung verloren …«
»Ihr altes Laster. Ich war in meiner Jugend nicht viel anders. Ich hatte immer die größte Mühe, mein Temperament zu zügeln. Aber ich wünschte trotzdem, Sie würden versuchen, mit Johnnie auszukommen. Mir zuliebe.«
»Ich werde es versuchen«, versprach sie und fragte ängstlich: »Sie sind mir doch nicht böse?«
»Weshalb sollte ich Ihnen böse sein? Weil Sie Johnnie einen Drink ins Gesicht gekippt haben?« Mrs. Plummer lächelte ironisch. »Das habe ich selbst oft genug getan. Ich weiß, er kann – schwierig sein.« Das Lächeln wich einem Ausdruck tiefer Müdigkeit. »Ich sehe seine Fehler sehr genau, Romy. Und ich habe
Weitere Kostenlose Bücher