Das Erbe des Vaters
genommen hatte. Dann war er ein Bekannter geworden und mit der Zeit ein Lückenbüßer, jemand, mit dem man sich die Zeit vertreiben konnte, bis etwas Besseres kam. Aber es war nichts Besseres gekommen, und ihr begann klarzuwerden, daß auch nichts Besseres kommen würde. Wünschte sie sich mehr von ihm als Freundschaft? Wünschte sie sich Liebe von Caleb Hesketh?
Sie hielt inne. Plötzlich war sie wieder in dem kleinen Café, hörte das Zischen der Espressomaschine, sah den Regen am Fenster. Sie sah wieder die kleine Mulde an seinem Halsansatz, spürte das Gewicht seiner Hände an ihrer Taille, die Berührung seines Mundes. Sie ließ die Bluse ins Wasser zurückfallen und richtete sich auf. Wenn er jetzt hier wäre, fragte sie sich, wenn er in diesem Augenblick hier wäre, was würde sie tun?
Sie würde zu ihm gehen und mit nassen Händen ihre Bluse aufknöpfen und ihren Rock abstreifen. O Gott, dachte sie. Was hast du da angefangen, Caleb Hesketh? Was haben wir da angefangen?
Sie nahm sich zusammen. Sie wußte, daß sie recht hatte: Sie hatte jetzt keine Zeit für die Liebe. Später vielleicht, nach dem Prozeß.
Nach dem Prozeß . Nach dem Prozeß würde Jem wieder frei und alles wieder gut sein. Fast alles jedenfalls. Im Trelawney berührte sie das Gespräch, das sie und Mrs. Plummer geführt hatten, mit keinem Wort, da sie ahnte, daß Mrs. Plummer das nicht wollen würde. Aber sie bemühte sich ohne großes Aufhebens darum, ihr Arbeit abzunehmen, indem sie, wo immer es möglich war, Probleme selbständig entschied und aus der Welt schaffte. Sie verstand nicht, wieso ihr nicht früher aufgefallen war, wie krank Mrs. Plummer aussah. Wie konnte man nur so unaufmerksam sein und nicht sehen, daß die Frau, mit der man Tag für Tag zusammenarbeitete, todkrank war; nicht bemerken, daß der beste Freund sich in einen verliebt hatte?
Sie ging zur Überstellungsprüfung, die vor dem Amtsgericht für Strafsachen stattfand. Mr. Rogers hatte ihr erklärt, daß in diesem Verfahren darüber befunden werde, ob ein schlüssiges Vorbringen vorlag. Ray Babbs hatte sich soweit erholt, daß er bei der Verhandlung als Zeuge aussagen konnte. »Er hat offenbar die Konstitution eines Ochsen«, hatte Mr. Rogers gesagt und hinzugefügt: »Wir müssen damit rechnen, Miss Cole, daß Mr. Babbs aussagen wird, Ihr Bruder habe den Streit angefangen.«
Bei der Verhandlung präsentierte die Polizei die Zeugen der Anklage, die danach von Jems Strafverteidiger, Mr. Stokes, ins Kreuzverhör genommen wurden. Romy beobachtete Ray Babbs, den sie bei dieser Gelegenheit zum erstenmal sah, mit gespannter Aufmerksamkeit, und ihr sank der Mut. Das war nicht der primitive Schläger, den sie sich vorgestellt hatte, sondern ein gewandter junger Mann, der trotz des dicken weißen Verbands um den Kopf angenehm anzusehen war. Er hatte ein frisches, offenes Gesicht und leuchtendblaue Augen. Babbs wirkte ruhig und besonnen, als er aussagte, daß Jem den Streit in dem Pub angefangen und ihm später in der Gasse aufgelauert habe, um ihn aus dem Hinterhalt zu überfallen.
Als Romy später das Gericht verließ, waren die Straßen voller Menschen, die zum Einkaufen unterwegs waren. Wie schön es wäre, dachte sie, wenn man keine anderen Sorgen hätte, als sich zu entscheiden, ob man Karotten oder Erbsen, die blauen Schuhe oder die roten nehmen sollte. Wie schön es wäre, wenn man sich nur darum sorgen müßte, ob man den Bus verpassen oder sich zu einer Verabredung verspäten würde.
An diesem Abend ging sie noch einmal zu Jems Freundin. Liz stand in der Küche und bügelte. Das Eisen glitt über den Stoff; Liz sah Romy nicht an.
»Du warst heute morgen nicht bei der Verhandlung«, sagte Romy.
»Ich mußte in die Arbeit.«
»Jem hat gesagt, daß du ihn schon eine ganze Weile nicht besucht hast, Liz.«
»Ich hasse diesen Kasten. Das Gefängnis. Mir wird da immer ganz schlecht.«
»Er vermißt dich.«
Liz schien den Tränen nahe. »Ich kann da nicht reingehen«, murmelte sie. »Es ist so gruselig.«
»Er macht sich Sorgen um dich. Er möchte sicher sein, daß es dir gutgeht.«
»Gut?« Sie sah zu ihrem Bauch hinunter. In ihrer Stimme lag Hysterie. »Die ersten drei Monate war mir ständig schlecht, und jetzt sagt der Arzt, daß ich hohen Blutdruck hab. Ich soll mich ausruhen, hat er gesagt. Und aufhören, mir ständig Sorgen zu machen. Kannst du mir mal verraten, wie ich das machen soll bei dem, was die zwei angestellt haben, Jem und Ray?«
Tiefe
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