Das Erbe des Vaters
ich welche.«
»Fahren wir nach London zurück?«
Er schüttelte den Kopf. »Nach Middlemere. Das ist nicht so weit.«
»Caleb –«
»Meine Mutter ist das Wochenende über weg. Wir haben das Haus für uns allein.«
»Das ist es nicht –«
»Damals war damals, und jetzt ist jetzt«, sagte er entschieden. Er reichte ihr die Hand. »Komm, Romy, vielleicht können wir zusammen die alten Gespenster vertreiben.«
Während Caleb in der Küche den Schinkenspeck für die Brote briet, streifte sie durch das Haus und ging nach oben, um zu sehen, wie sie reagieren würde. Da waren die Schlafzimmer, und da war der Flur. Da war das Fenster, und da war der Schrank. Sie zog die Tür auf und blickte ins Innere. Er schien so klein, so eng. Sie schloß die Augen, gespannt, ob sie wieder das Klappern von Metall auf Holz hören würde wie damals, als ihr Vater das Gewehr aufs Fensterbrett gelegt hatte, ob sie wieder den Pulvergeruch wahrnehmen würde.
Aber sie hörte nur das Krächzen der Krähen in den Wipfeln der Bäume und nahm nur den Geruch von Bohnerwachs und gebratenem Schinkenspeck wahr. Die Verwischung der Grenzen von Gegenwart und Vergangenheit, die sie bei ihrem letzten Besuch in Middlemere so sehr aus der Fassung gebracht hatte, war nicht mehr da. Es wunderte sie – wie kam es, daß das Haus ihr nichts mehr anhaben konnte?
Die Arme auf dem Fensterbrett, sah sie in den Garten hinunter und versuchte, es zu ergründen. Sie dachte an den Garten, den sie an diesem Morgen besichtigt hatten. Er hatte ihr eine ganz neue Seite von Caleb gezeigt. Uns geht es beiden darum, Träume zu verwirklichen, dachte sie. Sie versuchte es mit dem Hotel, Caleb mit seinem Garten.
Unten bewegte sich etwas, und als sie den Blick darauf richtete, sah sie Caleb in den Beeten des Gemüsegartens Salat und Kräuter pflücken. Sie beobachtete, wie er mit dem Messer den Kopfsalat abschnitt, dann kehrtmachte und ins Haus zurückging. Caleb war der einzige, der ihre ganze Geschichte kannte, der wußte, was sie zu der Person gemacht hatte, die sie geworden war. Obwohl sie aus Erfahrung gelernt hatte, sich einzig auf sich selbst zu verlassen, hatte Calebs Gesellschaft in diesen letzten schlimmen Monaten ihr ungeheuer wohlgetan. Ihm allein hatte sie sich anvertraut, wenn sie sonst keinen Menschen um sich dulden konnte. Fühlte sie Frieden, weil er da war? War es ihm zu verdanken, daß das Haus ihr nichts mehr anhaben konnte? Was für eine umwälzende Veränderung!
Sie ging wieder hinunter. Er stand am Herd. »Möchtest du Bier zu deinem Schinkenbrot?«
»Gern.« Er reichte ihr ein Glas.
»Ich habe mir unseren Weg angeschaut«, erzählte sie. »Den Weg am Feldrand. Den Jem und ich immer zur Schule gegangen sind. Du wahrscheinlich auch, nicht?«
»Ich war nicht in der Dorfschule. Ich bin nach dem Tod meines Vaters ins Internat gekommen.«
»Ah.«
»Was willst du damit sagen: Ah ?«
»Na ja, damit ist es doch klar. Du bist ein bißchen was Besseres, stimmt’s?«
»Blödsinn.«
»Nein, nein, es stimmt schon.« Sie hockte sich auf die Tischkante. »Du bist bestimmt nie hungrig vom Tisch aufgestanden, weil du nicht wußtest, welches Messer und welche Gabel du für den Fisch nehmen mußt. Du bist bestimmt nie ins Fettnäpfchen getreten, weil du zu essen angefangen hast, bevor alle anderen saßen. Und du bist bestimmt nie auf den Hintern geknallt, weil du nicht erwartet hast, daß der Kellner dir den Stuhl rauszieht.«
»Nein, das nicht«, mußte er zugeben.
»Als ich im Hotel angefangen habe, mußte ich alles erst lernen. Du hast keine Ahnung, wie oft ich mir wie eine komplette Idiotin vorkam. Ich mußte lernen, so zu sein wie alle anderen.«
»Du wirst nie so sein wie alle anderen«, sagte er.
»Caleb –«
»Es ist wahr. Glaub mir.«
»Ach, Mensch!« sagte sie. »Und dabei bemühe ich mich so sehr. Ich weiß gar nicht, warum du dich überhaupt mit mir abgibst.«
Er trat zu ihr. »Wirklich nicht?«
Sie schüttelte den Kopf. Die Zeit schien stillzustehen. »Na schön«, sagte er. »Dann werde ich versuchen, es dir zu erklären.«
Als er sie diesmal küßte, entzog sie sich ihm nicht. Seine Finger gruben sich in ihr Haar. Sie spürte den schnellen Schlag seines Herzens.
Nach einer Weile trat er zurück. »Siehst du jetzt ein bißchen klarer?« fragte er.
Dann drückte er ihr einen Teller in die Hand, und sie schaute zu dem Schinkenbrot hinunter und fragte sich, warum sie überhaupt nicht mehr hungrig war.
»Ich muß mit dir sprechen,
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