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Das Erbe des Vaters

Das Erbe des Vaters

Titel: Das Erbe des Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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Adoption freigeben. Da wurde mir klar, daß meinen Eltern ihr gutes Ansehen wichtiger ist als alles andere. Mir wurde klar, daß ihnen der Ruf der Familie mehr gilt als mein Glück.«
    »Das kann ich mir nicht vorstellen –«
    »Es ist aber so. Sie waren bereit, mir zu helfen, solange niemand von dem Kind erfahren würde. Als ich sagte, daß ich da nicht mitmachen könne, wollten sie nichts mehr von mir wissen.«
    »Vielleicht«, sagte Evelyn zögernd, »vielleicht wäre ein Heim gar nicht so übel.«
    »Waren Sie schon mal in so einem Haus? Ich habe mir eins angesehen. Es war entsetzlich. Man wird den ganzen Tag herumkommandiert und muß tun, was einem gesagt wird. Es wird erwartet, daß man sich ständig dafür schämt, was man getan hat. Wenn man nicht waschen oder putzen muß, muß man in die Kirche gehen. In dem Heim, das ich mir angeschaut habe, lag ein Mädchen auf dem Boden und putzte das Parkett mit einer Zahnbürste. Sie wollen einen bestrafen. Und wenn das Kind geboren ist, wird es einem sofort weggenommen. Man erfährt nicht, was aus ihm geworden ist, wohin es gekommen ist oder sonstwas. Aber ich wollte mein Kind von Anfang an nicht weggeben. Es ist schließlich mein Kind. Ich habe nicht viel, aber ich werde dieses Kind haben.« Sie legte eine Hand auf ihren Bauch. »Wir kommen schon durch«, sagte sie trotzig. »Wir schaffen das schon.«
    »Aber – Sie brauchen Geld. Und eine Wohnung.«
    »Ich habe gespart«, sagte Jeanette stolz. Sie stand auf. »Ich mache jetzt besser das Essen.« Damit ging sie ins Haus zurück.
    Evelyn blieb noch ein Weilchen auf der Bank unter dem Flieder sitzen, dann ging sie durch die Seitentür aus dem Garten hinaus und schlug den Weg zum Meer ein. Es war ein warmer Tag, Ausflügler lagen am Strand in der Sonne, Kinder planschten in den seichten Brandungswellen. Weiter draußen tummelten sich die Schwimmer.
    Sie setzte sich. Nicht weit entfernt war ein kleiner Junge damit beschäftigt, Sand in seinen Eimer zu schaufeln. Als sie zu ihm hinsah, lächelte er. Nur einen Moment lang überließ sie sich der alten Phantasie und tat so, als wäre er ihr Sohn. Dieser kleine Junge war eines der fünf Kinder, die sie verloren hatte. Sie hatten ihnen allen Namen gegeben, diesen Kindern, die sie nie gekannt hatte: Stephen, John, Richard, James und Alice.
    Aber der Traum zerrann, von der gnadenlosen Natur selbst zerstört. Im Lauf des letzten Jahres war ihre Periode unregelmäßig geworden und des öfteren später als normal eingetreten. Sie vermutete, daß sie sich dem Klimakterium näherte, was vielleicht wenigstens zum Teil ihre Stimmungsschwankungen erklärte. Bald würde auch die Hoffnung geschwunden sein. Sie würde niemals ein Kind gebären, niemals ein eigenes Kind in den Armen halten.
    Sie drückte die Hände auf ihr Gesicht, als wollte sie die aufsteigenden Tränen zurückdrängen. Durch das Gitter ihrer Finger hindurch sah sie das blaue Wasser, dessen sonnenfunkelnde Wellen von ihren Tränen gebrochen wurden. Ihr war, als würde auch sie innerlich zerbrechen.
    Nach einer Weile gelang es ihr, sich wieder zu fassen. Am Strand sitzen und heulen! schalt sie sich. Alle gaffen dich an, Evelyn. Der schreckliche Schmerz ließ langsam nach, sie wischte sich die Augen und schneuzte sich. Dann saß sie still da und wartete, bis die Qual zu dem vertrauten dumpfen Schmerz abflauen würde. Wie lange noch würde sie es ertragen müssen, daß dieses alte Leid immer wieder von neuem aufflammte? Und wenn es einmal nicht mehr weh täte, wenn die quälende Sehnsucht eines Tages verschwände, wäre das nicht auf eine gewisse Art, die sie nicht definieren konnte, noch schlimmer?
    Es kostete sie große Kraft, sich Jeanettes Problemen zuzuwenden. War es falsch von Jeanette, ihr Kind behalten zu wollen? Es gab sicher viele, die es für falsch hielten, sowohl aus praktischen als auch aus moralischen Gründen. Vor noch gar nicht langer Zeit hätte vielleicht auch sie – Evelyn – den Stab über Jeanette gebrochen. Sie hatte ein Bild von Betty Hesketh vor sich, ordinär in ihren grellen, billigen Kleidern, immer mit einem Mann im Schlepptau. Evelyn rümpfte wie alle anderen in den Swantons die Nase über Betty. Mehr als das – sie fand Betty abstoßend und ekelhaft.
    Aber, sagte sie sich jetzt, es war wenig genug Liebe in der Welt. Sie selbst hatte in ihrem Leben kaum Liebe empfangen. Warum sollte man von Jeanette verlangen, ihr Kind aufzugeben, das sie zweifellos mit Liebe und Fürsorge umhegen würde,

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