Das Erbe des Vaters
Stratton stets von ihr Besitz ergriffen, fielen von ihr ab. Hier, im offenen Tal, unter der blauen Weite des Himmels, konnte sie atmen.
Doch das Haus hatte sich verändert, sie sah es, als sie näher kam. Die Haustür war knallrot lackiert, zeigte nicht mehr das vertraute, blätternde Grün. Der Hof schien kleiner zu sein und war viel ordentlicher. Wo waren die Eimer und die Fässer, die Strohhaufen, die Futtertröge und Geräte? Wo waren die Tiere, das Schwein in seinem Pferch, die gackernden Hühner, die Katze, die mit scharfen grünen Augen auf eine Maus lauerte? Und im Garten wuchs nicht nur Gemüse, sondern es gab auch Blumen. Romys Mutter hatte für Blumen nie Zeit gehabt. Die gelben Köpfe von Narzissen nickten im leichten Wind. Romy starrte sie an. Einen bestürzenden Moment lang fragte sie sich, ob sie sich geirrt hatte, ob sie dem falschen Weg zum falschen Haus gefolgt war. Doch neben der Haustür war das Schild: Middlemere.
Als sie um das Haus herum nach hinten ging, hob sie den Blick zum oberen Flurfenster. Die Zeit tat einen Sprung, und flüchtig meinte sie, den metallgrauen Lauf eines Gewehrs auf dem Sims zu erkennen. Sie schauderte und sah noch einmal hin. Keine Spur von einem Gewehr natürlich, nur ein Vorhangzipfel, der sich im halbgeöffneten Fenster bauschte. Romy preßte die Faust auf ihre Zähne. Als sie die Hand wieder wegzog, war Blut an ihren Knöcheln.
Ein leichter Stoß gegen die Tür genügte, um diese zu öffnen. Sie trat ins Haus und blieb einen Moment lauschend stehen. Wessen Stimme erwartete sie zu hören? Die eines Fremden, der gegen ihr unbefugtes Eindringen protestierte? Oder die anderen Stimmen, deren Flüstern bei jedem Schritt zurück in die Kindheit immer vernehmlicher geworden war?
Aber sie vernahm nur ihre eigene Stimme, als sie den fremden Leuten, die Middlemere an sich gerissen hatten, murmelnd einen Gruß entbot. Niemand antwortete ihr. Nur das Ticken einer Uhr war zu hören und das Quietschen einer Tür im Haus, die vom plötzlich eindringenden Luftzug bewegt wurde. Der Geruch im Haus bestürzte sie. Er stimmte nicht. In Middlemere hätte es nach gebackenem Brot riechen müssen, nach Bienenwachs und natürlich nach den strengeren Düften des Hofs. Die Diele machte in ihrer Mischung aus Vertrautheit und Fremdheit einen gleichermaßen verwirrenden Eindruck auf sie. Der Holzfußboden war mit Linoleum zugedeckt, und die Wände – cremeweiß, als die Coles hier gelebt hatten – waren in einem leuchtenden Rosarot gestrichen. Mit der Fingerspitze strich Romy über die gerahmten Photographien, die eine der Wände schmückten. Dem drallen Baby im Strampelanzug auf dem ersten Bild folgte ein dunkelhaariges Kind in geflickter Baumwollhose und diesem wiederum ein Schuljunge in Mütze und Blazer (der Blick war nicht mehr so vertrauensvoll). Das letzte Photo zeigte einen jungen Soldaten in Uniform. Romy ballte die Fäuste. Am liebsten hätte sie diese Bilder eines fremden Eindringlings von den Wänden gerissen und vernichtet.
An der Wand gegenüber stand ein halbrunder Tisch, auf dem ein Stapel Briefe lag. Sie waren an Mrs. E. Hesketh, Middlemere, adressiert. Und das war aus irgendeinem Grund besonders schlimm. Die Briefe kamen ihr vor wie eine offizielle Bestätigung der Aneignung ihres Zuhauses durch eine fremde Person.
Sie ging in die Wohnstube. Sie war in frischen Gelb- und Grüntönen eingerichtet, und auf Borden und Tischchen drängten sich Photographien, Nippes und allerhand Schnickschnack. An den Fenstern hingen gerüschte Vorhänge, Sofas und Sessel waren die reinsten Kissenlandschaften. Romys Blick flog von der Porzellanschäferin zu den Glastierchen und den schnörkeligen Aschenbechern. Eine Stimme in ihr sagte immer wieder voller Empörung: Mein Haus. Sie haben einfach mein Haus verändert …
In der Küche nebenan hatte man die schweren Bauernmöbel durch Einbauschränke und Resopal ersetzt. Die alten Steinplatten waren wie draußen die Holzdielen unter Linoleum verschwunden. Von der Mitte herab hing eine Glühbirne unter einem gekrausten Lampenschirm. Über dem Spülbecken ragten zwei Wasserhähne aus der Wand. Als die Coles in Middlemere gelebt hatten, hatte es weder fließendes Wasser noch elektrischen Strom gegeben. Sie hatten ihr Wasser am Brunnen geholt und es in einem großen Kupferkessel auf dem Herd abgekocht. Das Haus war mit Petroleumlampen beleuchtet und mit offenem Feuer geheizt worden.
Romy ging wieder in die Diele hinaus. Am Fuß der Treppe blieb
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