Das Erbe des Vaters
darfst nicht gehen, Caleb. Ich brauche dich doch.«
»Du?« Er schüttelte den Kopf. »Du hast nie einen Menschen gebraucht.«
Ihre Fingernägel krallten sich in den Stoff. »Aber ich liebe dich.«
Sein Gesicht schien zu erstarren. »Bist du dir da so sicher, Romy?«
»Ja!« Sie drückte ihren Kopf an seine Brust. »Du darfst nicht gehen, Caleb. Bitte, geh nicht. Es tut mir leid. Ich wußte nicht –«
Mit einer Fingerspitze hob er ihr Gesicht an. Sanfter als zuvor sagte er: »Ich glaubte immer, die Wahrheit wäre das Wichtigste. Das glaube ich jetzt nicht mehr. Ich glaube, die Lügen waren mir lieber.«
Ihre Arme fielen herab. Er ging. Sie hörte seine Schritte auf der Treppe. Da rannte sie los, ihm hinterher die Treppe hinunter. Sie sah ihn schnell auf der Straße davongehen und versuchte, ihn einzuholen.
»Caleb!«
Er hielt nicht an. Noch einmal rief sie seinen Namen, da blieb er stehen.
»Caleb, du darfst mich nicht verlassen.« Sie rang mühsam nach Atem.
Er runzelte die Stirn. »Ich kann nicht anders, Romy. Ich wünschte, ich wäre dir nie begegnet. Ich wünschte, ich wäre damals, als ich dich in Middlemere das erste Mal sah, einfach gegangen und hätte dich nie wiedergesehen.« Er lächelte schief. »Tut mir leid. Das ist ziemlich hart, ich weiß. Aber so ist es nun mal.«
Er ging. Ein Stück weiter vorn bog er um die Ecke, verschwand aus ihrem Blickfeld und aus ihrem Leben.
Nach einer Weile kehrte sie in ihre Wohnung zurück. Sie setzte sich aufs Sofa. Der Hund legte sich ihr zu Füßen; die Katze rollte sich auf ihrem Schoß zusammen.
So blieb sie sitzen, bis es dunkel wurde und der Mond ins Zimmer schien. Als sie schließlich aufstand, in der Gewißheit, daß seine letzten Worte durch Tage, Wochen und Jahre in ihren Träumen und Alpträumen nachklingen würden, war sie so steif an allen Gliedern wie eine kranke alte Frau.
Sie fütterte die Tiere, räumte auf, prüfte die Zahlen in ihrem Sparbuch. Ich bin Romy Cole, sagte sie sich, und ich werde wieder von vorn anfangen. Es wird alles anders werden, besser.
Aber sie wußte nicht, was besser sein könnte als Caleb, und ganz gleich, was sie tat und wie sehr sie es versuchte, sie konnte nicht aufhören zu weinen.
13
A LS J AKE A NFANG N OVEMBER an Romys Porträt arbeitete, drehten alle Gespräche auf den Straßen und in den Kneipen sich um Krieg. »Nasser hat im Juli den Sueskanal verstaatlicht«, erklärte er Romy. » Das wirst du doch wenigstens mitbekommen haben.«
»Ich hatte andere Dinge im Kopf«, versetzte sie. Doch sie entsann sich, wie Caleb aus einem Bierklecks auf dem Tisch in einem Pub ihr eine Karte gezeichnet hatte: Das ist Israel, das ist Ägypten, und das ist der Sueskanal .
»Du hast wirklich eine unglaubliche Begabung, dich in deiner eigenen kleinen Welt zu verkriechen«, stellte Jake fest und sah sie aufmerksam an. »Beneidenswert.« Er betrachtete das Gemälde. »Wie dem auch sei, Nasser – er ist das Staatsoberhaupt von Ägypten – war gar nicht begeistert über unser Ultimatum an ihn, alle militärischen Operationen zu beenden, daraufhin haben wir – das heißt die Briten und die Franzosen, ich hoffe, du hörst konzentriert zu – interveniert und uns bei allen ziemlich unbeliebt gemacht. Es wird alles in einem großen Katzenjammer enden.«
Sie dachte an die jungen Männer aus ihrer Bekanntschaft, die ihren Militärdienst abgeleistet hatten und jeder Zeit eingezogen werden konnten, wenn wieder ein Krieg ausbrechen sollte. Jem, Tom und Magnus. Und sie dachte natürlich an Caleb, aber an den dachte sie ohnehin die meiste Zeit.
»Glaubst du, es gibt Krieg, Jake? Einen richtigen Krieg, meine ich, wie der letzte?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, das glaube ich nicht. Die Amerikaner wollen keinen Krieg, und sie sind diejenigen, die das Sagen haben. Dieses ganze Getöse ist nichts als ein letztes Brüllen des Löwen, Romy. Eines reichlich mottenzerfressenen und müden alten Löwen im übrigen.«
Sie fand, Jake sah selbst ziemlich müde und mottenzerfressen aus. Er hatte Ringe unter den Augen und tiefe Kerben zu beiden Seiten des Mundes.
»Ich denke, für heute machen wir Schluß«, sagte er plötzlich und legte Palette und Pinsel aus der Hand. »Ich kann mich nicht richtig konzentrieren …« Er ging zum Fenster und nahm seine Zigaretten heraus. »Es macht mich einfach wütend«, sagte er. »Diese ganze Bande von verkrachten Militärs, die sich einbilden, nur weil wir den Krieg gewonnen haben, sollten alle nach
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