Das Erbe des Vaters
weiterhin ertragen müssen, höchstens konnte sie ihre Gefühle in den grünen Schrank packen, zu all den anderen schlimmen Dingen, um sie nur dann hervorzuholen, wenn sie in sich die Kraft verspürte, ihrer Scham und ihrer Schuld ins Gesicht zu sehen und ihrem Wissen von dem Schmerz, den sie anderen mit ihrer Rachsucht bereitet hatte.
Und sie konnte, wie sie zu ihrer Überraschung erfahren mußte, Martha nicht überreden, Dennis zu verlassen. »Ich weiß, er ist ein altes Ekel«, sagte Martha an ihrer Zigarette paffend, »aber ich habe mich an ihn gewöhnt. Und außerdem – was würde ich in London tun, wo meine Freunde alle in Stratton sind?«
Aber sie konnte Carol, die sich so heftig wie sie nach Entkommen sehnte, eine Arbeit im Hotel besorgen. Und sie konnte sich bis zu Jems Freilassung aus dem Gefängnis um seinen kleinen Sohn kümmern.
Manchmal mußte sie lachen. Ausgerechnet sie, Romy Cole, die sich immer geschworen hatte, ein unabhängiges Leben ohne belastende Anhängsel zu führen, hatte sich einen Hund, eine Katze und ein neugeborenes Kind aufgehalst. Dazu eine halberwachsene Stiefschwester und einen anspruchsvollen Hotelbetrieb.
Sie fand ein Kindermädchen für den Kleinen und ließ ein Mansardenzimmer im Trelawney – das kleine mit der schrägen Decke, in dem sie selbst gewohnt hatte, als sie nach London gekommen war – für Carol herrichten. Sie besuchte Jem in Pentonville und erzählte ihm von seinem Sohn. »Er ist so einfach zu handhaben, Jem – wenn er gefüttert worden ist, schläft er brav seine vier Stunden bis zur nächsten Mahlzeit. Er macht überhaupt keine Umstände.« Und Jem lächelte, wie es schien zum erstenmal seit Monaten, und sagte: »Du bist toll, Romy. Du bist einfach toll.«
Ihr Porträt durfte sie erst sehen, als es fertig war. Jake befahl ihr, die Augen zu schließen, bevor er sie ins Atelier führte.
»Jetzt kannst du sie aufmachen«, sagte er, als sie vor dem Bild standen.
Sie öffnete die Augen und sah sich auf der Leinwand: kleines, ovales Gesicht, nußbraunes Haar, große lichtbraune Augen und der blaßblaue Mantel. Sie lächelte und hob die Hand, um die junge Frau auf dem Bild zu berühren. Ich bin Romy Cole, dachte sie, und mein Leben wird ganz anders. Viel besser.
Teil 4
Orientierung
1958–1960
14
W ENN R OMY SPÄTER ZURÜCKBLICKTE , hatte sie den Eindruck, daß sie kaum eine Erinnerung an die Monate unmittelbar nach Dannys Geburt und Mrs. Plummers Tod hatte; als wäre sie in dieser Zeit zu sehr erschöpft gewesen, um die Ereignisse in ihrem Gedächtnis zu speichern.
Liz hatte von ihrem Kind nichts wissen wollen und – nachdem sie sich einverstanden erklärt hatte, daß Romy bis zu Jems Entlassung aus der Haft für Danny sorgte – auf alle Rechte verzichtet. Romy, die ihrer Mutter bei der Betreuung von Ronnie und Gareth geholfen hatte und wußte, wie man einen Säugling wickelte, fütterte und badete, entdeckte dennoch sehr bald, daß sie in anderer Hinsicht völlig unvorbereitet auf die Sorge für Jems Kind war. Es überraschte sie, wie drückend sie das Gewicht der Verantwortung empfand. Danny war so klein und hilflos. Immer wenn sie ihn hielt, fürchtete sie, seine zarten, schmalen Glieder könnten ihren Händen entgleiten. Sie, die einmal geglaubt hatte, es gäbe kaum etwas, was ihr angst machen könnte, schwebte jetzt ständig in Angst. Sie hatte Angst vor Unfällen, Bakterien und vor allem vor ihrer eigenen Unzulänglichkeit. Wenn Danny weinte, packte sie tiefe Hoffnungslosigkeit. Sie war nicht seine Mutter, wie sollte sie ihn da trösten? Dannys hochrotes kleines Gesicht und seine strampelnden Glieder schienen ihr seine Wut und seinen Schmerz über den Verlust auszudrücken. Sie hegte den Verdacht, daß Danny den Betrug und das Ungenügen spürte. Sie hatte sich ja nie Kinder gewünscht und sich nie als eine mütterliche Person gesehen. Sie beneidete das Kindermädchen um seine kurz entschlossene, pragmatische Art. Wenn Danny weinte, pflegte Sarah ihn hochzunehmen und zu sagen: »Wahrscheinlich hat er Bauchweh«, legte ihn an ihre Schulter und klopfte ihm den Rücken, bis er einschlief. Von den Zweifeln, die Romy ständig plagten, gab es bei ihr keine Spur.
Dennoch, so schien es Romy, entwickelte sich zwischen ihr und dem Kind mit der Zeit so etwas wie ein Einverständnis. Mit acht Wochen wurde er ruhiger, die Zeiten, zu denen er schlafen oder gefüttert werden wollte, wurden regelmäßiger; es war, als hätte er sein Los im Leben angenommen und
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