Das Erbe des Vaters
unserer Pfeife tanzen. Sind die eigentlich blind? Sehen die nicht, daß wir überhaupt nicht zählen?« Er sah eher deprimiert als wütend aus. »Und außerdem muß man ständig Angst haben, daß eines Tages irgendein Wahnsinniger auf den Knopf drückt.«
Romy sah gewaltige Atompilze vor sich und die geschwärzten Toten von Hiroshima. Jake glaubte, sie stünde der Welt gleichgültig gegenüber, aber das war nicht mehr so. Die Umwälzungen der letzten sechs Monate und die Nähe zu Liebe, Verlust und Tod hatten sie verändert.
Jake wechselte das Thema. »Was macht dein feines Hotel?«
Sie lächelte. »Es ist eine Pracht, Jake«, sagte sie. »Und wenn ich mit ihm fertig bin, wird es noch viel prächtiger sein.«
Er hatte das Porträt im Sommer begonnen. Sie hatte ihm von Caleb erzählen müssen, warum Caleb sie verlassen hatte und aus London verschwunden war, und um die Zusammenhänge klarzumachen, hatte sie ihm von Middlemere erzählen müssen. Als sie fertig war, entdeckte sie, daß es nichts mehr zu verbergen gab und sie keine Angst davor hatte, was er in ihr sehen könnte.
Die Sitzungen waren stets kurz, weil sie noch nie die Geduld zum langen Stillsitzen gehabt hatte und weil Mrs. Plummer im Sterben lag. Der Sommer ging in den Herbst über, und die Stunden, die sie an der Seite von Mirabel Plummer verbrachte, schienen durchdrungen zu sein vom scharfen Geruch nach Leinsamen und Terpentin. Sie fühlte Schmerz und Wut. Wut darüber, daß sie wieder einen Menschen verlieren sollte, den sie liebte.
Im September kreuzte Johnnie Fitzgerald im Hotel auf. Er schaffte es, an Max, dem Portier, vorbeizukommen, und stürmte ins Foyer. Er sei im Ausland gewesen, schrie er laut, und jemand habe ihm gesagt, daß die Frau, die er liebte, im Sterben liege. Jack Starling schleppte ihn zusammen mit zwei anderen mit Gewalt zur Straße hinaus. In ihrem Büro hörte Romy ihn brüllen: »Aber ich liebe sie. Ich will sie heiraten!«
Eine Woche vor ihrem Tod wurde Mirabel Plummer in eine Klinik gebracht. Sie würde lieber im Trelawney sterben, sagte sie zu Romy, aber so etwas sei nicht gut fürs Geschäft. Und Romy solle sie nicht besuchen; sie werde allein sterben. Alle Menschen stürben allein, das habe sie schon vor langer Zeit gelernt. Außerdem werde Romy im Hotel gebraucht.
Mrs. Plummers Wunsch gemäß verzichteten sie auf Trauerflor und Ruhetag zum Gedenken ihres Todes. Statt dessen wurden die Trauergäste ins Marrakesh eingeladen, es gab Champagner für alle, und der Pianist spielte Mrs. Plummers Lieblingsstücke. Diese Nacht blieb allen in Soho lange in Erinnerung. Sie tranken die Bar trocken. Sie tanzten auf den Tischen. Zu hundert grölten sie den Refrain von »Heartbreak Hotel« aus den Fenstern in der oberen Etage, und die beiden jungen Polizisten, die unten Streife gingen, machten sich schleunigst aus dem Staub. Als man am nächsten Morgen die schmale blaue Tür am Fuß der Treppe aufsperrte, fand man ein halbes Dutzend Trauergäste über die Treppe verteilt, die dort ihren Rausch ausschliefen.
Einige Tage später rief Mr. Gilfoyle Romy an und vereinbarte einen Termin mit ihr. Da erfuhr sie, daß Johnnie Fitzgerald zwar das Marrakesh und das Haus an der Themse erbte, Mrs. Plummer ihr aber das Trelawney-Hotel hinterlassen hatte.
Für das Porträt trug sie den blaßblauen Paquin-Mantel, den Mrs. Plummer ihr geschenkt hatte. Sie erinnerte sich an die Tage, die sie gemeinsam in Nizza verbracht hatten. Es war ihre erste Auslandsreise gewesen, und sie hatte den Paquin-Mantel getragen. Sie war die Baie des Anges entlanggegangen und hatte zum Meer hinausgeblickt und gedacht: Ich bin Romy Cole, und das ist das Mittelmeer. Es war ihr wie ein Wunder vorgekommen.
Jetzt war sie die Eigentümerin des Trelawney-Hotels, was noch wunderbarer schien. In den ersten Wochen konnte sie ihr Glück kaum glauben, war fassungslos über Mrs. Plummers großzügiges Geschenk. Doch sie blieb innerlich reserviert, halb in der Erwartung, daß jemand kommen und es ihr wegnehmen würde.
Aber mit der Zeit konnte man sich auch an die unverhofftesten Wendungen des Schicksals gewöhnen, und allmählich begann sie, an ihr Glück zu glauben und es ohne Vorbehalte zu akzeptieren. Sie erinnerte sich an etwas, was sie vor langer Zeit gelernt hatte: Wer Wohlstand und Sicherheit besaß, der hatte die Wahl. Dennoch war manches natürlich auch mit Geld nicht zu ändern. Caleb zum Beispiel konnte sie nicht zurückkaufen, diesen Verlust würde sie
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