Das Erbe des Vaters
fügte er an Romy gewandt erklärend hinzu. »Weißt du was, ich zeige dir dein Zimmer, dann kannst du dich inzwischen ein bißchen ausruhen, deine Sachen auspacken und so weiter.«
Er führte sie in ein Zimmer im hinteren Teil des Hauses. Dann küßte er sie, sagte: »Bin gleich wieder da«, und eilte durch einen Flur davon.
Romy hängte ihre Kleider auf, bürstete sich die Haare und zog sich die Lippen nach. Dann sah sie sich in ihrem Zimmer um. Die Möbel waren aus einem hellen Holz, der Boden, helles Parkett, auf dem ein paar Brücken in einem dezenten Streifenmuster lagen, war glänzend gebohnert. Cremefarbene Rupfenvorhänge umrahmten die Fenster, die aufs Meer blickten. Als sie hinausschaute, sah sie eine Gruppe kleiner schwarzer Strichmännchen, die sich den Strand entlangbewegte. Möwen segelten auf dem Aufwind oder wurden von plötzlichen Böen geschüttelt, und die Wellen hatten weiße Schaumkronen.
Die Zeit zog sich. Es gab nichts mehr zu besichtigen. Sie schaute auf ihre Uhr. Beinahe eine Stunde war vergangen, seit Patrick sie hier abgesetzt hatte. Wahrscheinlich wartete er unten auf sie. Als sie aus dem Zimmer trat, war sie nicht mehr sicher, in welche Richtung sie gehen mußte. Es war ein seltsam gebautes Haus mit unerwartet abzweigenden Korridoren und Treppen, ineinander übergehenen Räumen, viele mit hohen gewölbten Decken. Die Zimmer waren alle sehr karg eingerichtet. Sie begegnete keiner Menschenseele, bis sie unversehens in einen großen Raum mit hohen Fenstertüren gelangte. Hinter den Fenstern lagen eine Terrasse und der Garten. In die Scheiben waren kleine Rauten farbigen Glases eingesetzt, durch die blaue, orangefarbene und gelbe Lichtsprenkel auf den hellen Teppich fielen.
Eine dunkelhaarige junge Frau in einem roten Kleid hatte es sich mit einer Schachtel Pralinen auf einem massigen weißen Sofa bequem gemacht. Sie hob den Kopf, als Romy eintrat.
»Ach, ich dachte, es wäre Marian.«
»Ich bin Romy. Romy Cole. Hallo!« Sie bot der Frau die Hand.
Blasse Finger ohne Druck. »Ich bin Christine«, sagte die Frau, »und ich gestehe, ich bin erleichtert, daß Sie nicht Marian sind, das sind nämlich ihre Pralinen.« Sie hielt Romy einladend die Schachtel hin, doch die schüttelte den Kopf.
»Ich bin auf der Suche nach Patrick.«
»Ich habe ihn nicht gesehen.« Christine hatte den Mund voller Schokolade. »Er ist wahrscheinlich mit den anderen draußen am Strand.«
»Glauben Sie?«
Die junge Frau zuckte mit den Schultern. Das flüchtige Interesse schien schon wieder eingeschlafen. »Bei Patrick gibt’s keine ruhige Minute«, murmelte sie.
Romy ging ins Freie hinaus. Es war später Nachmittag, die Sonne hing tief über dem Horizont. Patrick hatte vielleicht geglaubt, sie schliefe oder nähme ein Bad, sagte sie sich, da war es durchaus möglich, daß er mit seinen Freunden einen Spaziergang unternommen hatte. Es gab, wie die Frau im roten Kleid richtig gesagt hatte, bei ihm keine ruhige Minute.
Von der Terrasse stieg sie zum Rasen hinunter. An seinem Ende stand eine Hecke vom Wind gekrümmter, salzweißer Büsche und Sträucher, und danach verlief sich der Garten buchstäblich im Sand. Der Boden wurde uneben und wölbte sich zu Dünen auf, durch die zwischen Büscheln hohen Grases hindurch schmale Fußwege führten. Als Romy aus ihrem Schutz heraustrat, befand sie sich am Strand.
Der Wind fiel über sie her, schneidend und frisch. Sie hatte einen dicken Pullover und einen Wollrock an, doch die kalte Luft durchdrang das dicke Gewebe. Sie ging zum Meer hinunter. Hin und wieder machte sie halt, um eine Muschel oder einen Stein aufzuheben. An der Wasserkante kauerte sie nieder und hielt die Hände ins eisige Naß. Die Kälte war beißend, bleichte ihre Hände, und schließlich stand sie auf und schlang die Arme fest um ihren Oberkörper. Das Licht der untergehenden Sonne funkelte auf den Wellen wie die Reflexe der farbigen Gläser in Bunny Napiers Wohnzimmer. Sie atmete die kalte Luft ein und fühlte sich erfrischt von der Leere der Landschaft und der herrlichen Weite von Meer und Himmel. Sie fühlte sich befreit. Die Erkenntnis, daß dieses Gefühl der Befreiung und des Überschwangs zum Teil darauf beruhte, daß sie endlich einmal, wenn auch nur für ein Wochenende, dem Hotel entronnen war, versetzte ihr einen leichten Schock.
Sie ging den Strand hinunter. Patrick war nirgends zu sehen, und die Leute, die sie vom Fenster aus beobachtet hatte, waren wie vom Erdboden verschluckt. Der
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