Das Erbe des Vaters
Wind riß an ihren Kleidern. Als sie die Landspitze erreichte, schaute sie sich um. Die Landschaft verging im schwindenden Licht. Der Strand war verlassen; sogar die Möwen schienen den Schutz der Dünen aufgesucht zu haben.
Nach einer Weile machte sie kehrt und ging zum Haus zurück. Sie fand nicht gleich die richtige Düne und den richtigen Weg. Es war dunkel geworden, der Himmel war nachtblau, nichts war zu hören als das Rascheln des Windes im hohen Gras und das leise Plätschern des Meeres.
Und Geräusche aus dem Haus. Unbehagen erfaßte sie bei dem Gelächter und Stimmengemurmel, das zu ihr herausdrang. Gestalten bewegten sich hinter den hohen Fenstertüren des Zimmers, das vorhin – so lange konnte das doch nicht her sein! – noch leer gewesen war.
Alle Hoffnung, sie könnte sich getäuscht haben, löste sich auf, als sie näher kam. Das Zimmer war voller Menschen. Auf dem Weg zur Terrasse blieb Romy stehen, so unsicher wie seit Jahren nicht mehr. Einen Moment lang war sie wieder ein achtzehnjähriges Mädchen, das die falschen Kleider trug und sich nicht zu benehmen wußte.
Sie straffte die Schultern und trat ins Zimmer, mitten hinein in eine Gesellschaft von mehr als zwanzig Personen, die Cocktails tranken, kleine Brötchen aßen und sie mit interessierten Blicken musterten. Patrick stand neben einer älteren Frau. Romy erkannte blitzartig ihren Irrtum: Bunny Napier war nicht die rundliche, mütterliche Frau ihrer Vorstellung; sie war groß und schlank und schön. Eine leichte Blässe ihres Gesichts hob ihre Schönheit noch hervor. Ihr blondes Haar war zu einer eleganten Nackenrolle hochgesteckt, und das Gesicht war perfekt geschminkt. Sie trug ein Abendkleid aus grüner Seide mit engem Mieder und einem weiten Rock. Perlen schimmerten an ihrem Hals und ihren Ohren. Der Blick ihrer Augen, glashart und graugrün wie das Meer, blitzte messerscharf, als er sich auf Romy richtete.
Ihre Stimme übertönte hoch und klar das allgemeine Geplauder. »Da sind Sie ja endlich. Wir haben uns schon Sorgen gemacht. Wir dachten, wir müßten einen Suchtrupp losschikken.«
Dünnes Gelächter von den anderen Gästen quittierte ihre Bemerkung.
»Es tut mir leid«, sagte Romy. »Ich hatte keine Ahnung –«
»Machen Sie sich keine Gedanken, Miss Cole. Wir alle wissen einen ausgiebigen Spaziergang zu schätzen. Und wir mußten ja nicht sehr lange warten.«
Patrick kam auf sie zu. Er sah wütend aus. »Wo bist du gewesen?«
»Ich habe dich gesucht.«
»Du hast mich gesucht?« Er musterte sie mit einem Blick von oben bis unten. »Du siehst aus, als hättest du eine Riesenwanderung hinter dir.«
»Ich gehe nach oben und mache mich frisch.«
»Dazu ist keine Zeit mehr.« Gereizt nahm er sich eine Zigarette aus der Dose und zündete sie an. »Es hat vor fünf Minuten zum Essen gegongt. Du mußt eben kommen, wie du bist.«
»Patrick«, sagte sie ruhig, »ich kann unmöglich so zum Essen erscheinen. Fangt ihr ruhig an – es macht mir nichts aus, wenn meine Suppe kalt wird.« Sie berührte seinen Arm, um ihn zu besänftigen, aber er trat von ihr weg. »Ich bin gleich wieder da.«
Sie lief nach oben und durchlitt einen Moment der Panik, als sie glaubte, sie wüßte den Weg zu ihrem Zimmer nicht mehr. Aber dann fand sie wunderbarerweise doch die richtige Tür. In aller Eile zog sie Rock und Pullover aus. Keine Zeit, die dicken Strümpfe zu wechseln. Sie konnte nur hoffen, daß man sie unter dem langen Kleid nicht bemerken würde. Sie war war gerade dabei, ihre Bluse aufzuknöpfen, als ihr Blick in den Toilettenspiegel fiel. Entsetzt hielt sie inne. Ihre Haare hingen in wirren Strähnen, ihre Nase und Wangen waren krebsrot vom Wind. Hastig schlüpfte sie in ihr Abendkleid, schaffte es mit den tollsten Verrenkungen, den Reißverschluß zuzuziehen, kämmte sich die Haare und drehte sie mit fliegenden Fingern im Nacken zu einem Knoten. Dann puderte sie sich Wangen und Nase und zog ihre Lippen nach. Ohrringe, Abendtäschchen, Handschuhe, fertig. Sie holte einmal tief Atem und ging nach unten.
Später konnte sie sich nicht erinnern, was sie zum ersten Gang gegessen hatte, vermutlich Suppe oder etwas ähnliches. Sie waren schon beim Hauptgang, als der Mann zu ihrer Rechten sich ihr zuwandte und sagte: »Na, sind Sie jetzt wieder bei Atem?«
Lächelnd antwortet sie: »Ich denke schon, ja.«
»Ich bin übrigens Nicholas Thirkettle.«
Sie stellte sich ebenfalls vor.
»Romy Cole «, sagte er nachdenklich. »Wissen Sie, was Ihr
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