Das Erbe des Vaters
Gefühl, daß sie in letzter Zeit nervlich immer mehr heruntergekommen war. Vor einigen Monaten hatte sie sich ein Herz gefaßt und mit Dr. Lockhart gesprochen, aber der hatte sie mit ein paar vagen Bemerkungen über die Lebensmitte abgespeist und ihr ein ziemlich ekelhaft schmeckendes Mittel verschrieben, das weder die Gefühle der Angst und der tiefen Niedergeschlagenheit linderte, unter denen sie litt, noch die plötzlichen Aufwallungen von Zorn beseitigte, die sie manchmal nur mit Mühe in den Griff bekam.
Und Osborne … Evelyn starrte zum Zugfenster hinaus und versuchte, sich der Zeit der jungen Liebe zu erinnern. Er war ohne Zweifel ein gutaussehender Mann gewesen, groß und gut gebaut, mit dunklen, blaugrauen Augen, die sie fasziniert hatten. Osborne Daubenys Selbstsicherheit und Stärke hatten ihr in einer Zeit, in der sie unter ihrer eigenen Unsicherheit gelitten hatte, das Gefühl gegeben, beschützt und sicher zu sein. Doch irgendwann im Lauf der Jahre hatte sein unerschütterlicher Glaube an seine eigene Unfehlbarkeit angefangen, sie zu ärgern. Sie hatte es nicht ein einziges Mal geschafft, ihn irgendwann zu einem Sinneswandel zu bewegen. Im Gegenteil, er hatte sich angewöhnt, ihr zu sagen, was sie dachte und fühlte, so daß sie heute den Eindruck hatte, selbst ihre Ansichten und Vorlieben wären nicht ihre eigenen, sondern die ihres Mannes.
Liebte sie Osborne? Wenn jemand einen ärgerte, manchmal fast bis zur Weißglut reizte, konnte man ihn dann trotzdem lieben? »Herrgott noch mal, hab dich nicht so«, sagte Evelyn laut zu sich selbst, und die vier oder fünf Geschäftsmänner in ihrem Abteil starrten sie an. Sie überspielte ihre Verlegenheit, indem sie in ihrer Handtasche nach ihrer Puderdose suchte. Natürlich liebte sie Osborne. Sie war schließlich seine Frau!
Und trotzdem dachte sie wie tausendmal zuvor: Hätte ich nur eines der Kinder austragen können. Nur eines!
Romy lieh sich von Lindy Saunders einen Rock für das Fest bei Liam Pike. Der Rock war schwarz und fiel, schmal in der Taille, von den Hüften glockig bis zu den Waden hinunter. Der glänzende Stoff schwang Romy bei jedem Schritt raschelnd um die Beine. Auf dem Markt in Romsey kaufte sie ein Paar Nylonstrümpfe, und bei einem Ramschverkauf in Stratton fand sie ein schwarzes Strickoberteil, das zu dem Rock paßte. Das Oberteil war ein bißchen eng, aber es ging. Sie verbrachte eine ungemütliche Nacht mit Lockenwicklern im Haar und schminkte sich mit großer Sorgfalt. Ihr entging nicht, wie Liam Pike die Augen aufriß, als sie ihm am Abend die Tür öffnete.
Die Pikes wohnten drei Kilometer außerhalb von Stratton in einer großen Villa unter Bäumen. Als Liam durch das Tor fuhr, sah Romy, daß in der gekiesten Auffahrt schon Dutzende von Autos standen. Drinnen stellte Liam sie seinen Eltern vor. Mrs. Pike hatte ein königsblaues Satinkleid und lange passende Handschuhe an und trug das Haar in steifen Locken. Sie begrüßte Romy mit einem höflichen Lächeln, doch ihr Blick war taxierend und abschätzig. Als jemand mit einem Tablett voller Cocktails vorbeikam, nahm Romy einen und kippte ihn hastig hinunter, weil sie hoffte, ihre Nervosität würde dann nachlassen. Dann bemerkte sie, daß weder Liam noch seine Eltern ihre Getränke angerührt hatten und nun erst die Gläser zum Toast erhoben. »Auf dich, Mama«, sagte Liam. »Alles Gute zum Geburtstag.« Sie stießen miteinander an. Mrs. Pikes Blick wurde noch mißbilligender. Romys Wangen brannten.
Mrs. Pike bat Liam, ihr noch etwas Eis zu holen. Romy war sich selbst überlassen. Niemand sprach mit ihr, und allein bei dem Gedanken, sich einfach einem der selbstsicheren Grüppchen anzuschließen, die überall herumstanden, bekam sie Magenflattern. Statt dessen wanderte sie ziellos umher. Ihr fiel auf, daß sie die einzige Frau war, die Rock und Pulli trug. Alle anderen Frauen hatten lange Abendkleider an und Handschuhe, die ihnen bis zu den Ellbogen reichten.
Aber das Haus! Sie hatte erwartet, daß der Neid sie packen würde, doch es war scheußlich – unaufgeräumt und schmuddelig. Kein Wunder, daß ihre Mutter hier gekündigt hatte. Man wusste ja kaum, wo man mit dem Saubermachen anfangen sollte. Die Sofas und Sessel sahen noch älter und abgewetzter aus als die zu Hause am Hill View 5. Die Tapeten waren verschossen und lösten sich an manchen Stellen von der Wand. Die fadenscheinigen Teppiche waren achtlos auf blanke Holzdielen geworfen, und überall, wo Platz war,
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