Das Erbe des Vaters
Henry dagegen bleibt immer stur sitzen.«
»Gerald ist also verheiratet?«
Celia machte ein unglückliches Gesicht. »Ja.« Sie stieß mit ihrer Zigarette nach dem Aschenbecher. »Sie ist so eine Xanthippe.«
»Cee!«
»Es ist doch wahr. So bissig. Und undankbar. Gerald hat mir immer schon leid getan. Ich habe ihm angesehen, daß er unglücklich war. Ich habe immer versucht, ihn ein bißchen aufzuheitern – nur mit Kleinigkeiten, weißt du, zum Beispiel habe ich immer darauf geachtet, daß er den besten Malt Whisky bekam, und wenn sie gestichelt hat, daß er zu dick sei – er ist überhaupt nicht dick, Evie, er ist gerade richtig –, habe ich ihm die letzte Portion Pudding angeboten. Und man kann so gut mit ihm reden. Henry und ich sprechen praktisch überhaupt nicht mehr miteinander – jedenfalls nicht richtig. Dann war mal im Haus etwas nicht in Ordnung – irgendwas mit der Elektrizität –, und ich hatte Probleme mit dem Wagen, und Henry war nicht da, also habe ich Gerald angerufen.« Celia hielt inne. Dann sagte sie leise: »Und da wurde mir klar – ich meine, ich merkte mit der Zeit, daß ich ihn liebe.«
Die Kellnerin brachte die Suppe. Als sie wieder weg war, fragte Evelyn: »Was willst du jetzt tun?«
»Tun?« Celia sah sie erstaunt an.
»Ich meine, hast du vor, Henry zu verlassen?«
»Ich weiß nicht.« Celia zerriß ihr Brötchen. »Ich weiß es wirklich nicht.«
»Ich meine … eine Scheidung …«
»Genau«, sagte Celia sachlich. »Da würden bestimmt viele meiner Freunde nicht mehr mit mir reden. Meine Mutter ganz sicher nicht.« Sie runzelte die Stirn. »Aber das wäre mir egal. Wichtig sind mir die Kinder. Und wie könnte ich denen so etwas antun? Was sie da durchmachen müßten!«
»Hast du –« Es war eine heikle Frage, die man vielleicht am besten nicht stellte. Trotzdem blieb sie dabei. »Hast du mit Gerald –«
»O ja«, sagte Celia stolz. Ihre Augen leuchteten, ihr schlichtes Gesicht war plötzlich schön, vom Glück verwandelt. »O ja, wir schlafen miteinander.« Sie schwieg einen Moment, dann sagte sie leise: »Ich liebe Henry schon lange nicht mehr. Ich bin nicht einmal sicher, daß ich ihn je geliebt habe. Ich war sehr jung, als wir geheiratet haben – ich glaube, ich wußte gar nicht, was Liebe ist. Aber das heißt natürlich nicht, daß er so etwas verdient. Ich liebe ihn vielleicht nicht, aber er ist ein guter Versorger und ein guter Vater.« Celia legte ihren Löffel in die Suppenschale. »Wenn ich bei Henry bleibe«, sagte sie langsam, »werde ich mich mein Leben lang nach Gerald sehnen. Wenn ich Henry verlasse, werde ich meinen Kindern furchtbar weh tun. Was soll ich tun, Evie? Was soll ich nur tun?«
Als Evelyn an diesem Abend mit der Bahn nach Hause fuhr, hatte sie reichlich Stoff zum Nachdenken. Daß Celia eine Scheidung überhaupt in Betracht zog, war ein Schock für sie. Das Wort allein schon hatte einen ekligen, schmutzigen Beigeschmack. Man dachte sofort an Privatdetektive und billige Absteigen in Brighton. Schrecklich, sich vorzustellen, daß Celia in so etwas verstrickt war. Schrecklich, sich vorzustellen, wie eine Scheidung ihren Ruf und ihr gesellschaftliches Ansehen schädigen würde. Um der Freundin willen hoffte Evelyn, daß Celia zur Vernunft kommen und vor dem Abgrund kehrtmachen würde.
Aber in Evelyns Sorge um Celia und ihr Verständnis für ihr Dilemma mischten sich einige weniger achtenswerte Emotionen. Beim Nachtisch hatte Celia gestanden, daß sie und Gerald bereits seit acht Monaten ein Verhältnis miteinander hatten. Acht Monate! In dieser Zeit hatten sie sich mehrmals getroffen, aber Celia hatte keinen Ton gesagt. Ihrer besten Freundin eine so wichtige Sache zu verheimlichen! Jetzt, in der Rückschau, fielen Evelyn verschiedene kleine Veränderungen ein, die sie an Celia bemerkt hatte. Die größere Sorgfalt, die sie auf Kleidung, Haar und Make-up verwendet hatte. Die neue Lebendigkeit.
Sie versuchte, die Gefühle der Kränkung und der Einsamkeit zu vertreiben, indem sie sich egoistisch schalt, aber es gelang ihr nicht. Ihr schien, daß sie die Bedeutung der zweieinhalb Jahrzehnte, die verstrichen waren, seit sie und Celia die Schule verlassen hatten, töricht unterschätzt hatte. Ebenso hatte sie die Unterschiede in ihren Lebensweisen unterschätzt. Sie waren beide nicht mehr die, die sie einmal gewesen waren. Die Ehe hatte sie verändert, der Krieg hatte sie verändert, die Kinder – oder, in Evelyns Fall, die Kinderlosigkeit
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