Das Erbe des Vaters
hatte sie für alles, was sie bekam, froh und dankbar zu sein. Sie hätte sich geehrt fühlen müssen, ihre Unschuld an jemanden wie Liam Pike verlieren zu dürfen. Leute wie die Parrys putzten für Leute wie die Pikes – warum sollten sie sich nicht auch um deren andere, heimlichere Bedürfnisse kümmern?
Als sie zu Hause ankam, stand Dennis mit einer Schachtel Streichhölzer in der Hand in der Küche vor dem Herd. Oben, auf der Platte, lagen zahllose abgebrannte Hölzchen, die von Dennis’ erfolglosen Bemühungen zeugten, den Brenner anzuzünden. Der ganze Raum stank nach Gas.
»Gib her«, sagte sie ungeduldig. »Du jagst noch das Haus in die Luft.«
Mit einiger Mühe brachte sie eines der feuchten Hölzer zum Brennen und schaffte es, dem launischen Brenner genau die richtige Menge an Gas zu entlocken. Dennis stand schwer atmend neben ihr.
»So.« Sie stellte den Wasserkessel auf den Gasring.
»Machst du mir eine Tasse Tee, Romy, Kleines?« sagte er mit schleimiger Stimme.
Sie reckte sich zum Schrank hinauf, um die Teedose herauszuholen. »Was ist?« fragte sie scharf. »Was starrst du mich so an?«
»Du siehst richtig hübsch aus heute abend, Romy. Ganz erwachsen.«
Dennis hatte ihr ein Kompliment gemacht. Sie konnte sich nicht erinnern, daß er ihr in all den Jahren, seit sie unter seinem Dach lebte, je etwas Nettes gesagt hatte. Sie hätte wohl erfreut sein sollen, aber ihr war nur unbehaglich zumute.
Sie starrte den Kessel an und wünschte, das Wasser würde endlich kochen.
Er sagte: »Du warst wohl heute abend aus?«
»Auf einem Fest.«
»Und – hast du jemanden kennengelernt?«
»Eigentlich nicht.« Ihre Hand zitterte, als sie den Tee aus der Dose in die Kanne löffelte.
»Du mußt gut auf dich aufpassen«, sagte Dennis. »Ein hübsches Ding wie du.«
Das Wasser hatte noch nicht richtig gekocht, aber sie goß den Tee auf und lief nach oben. Carols Anwesenheit in ihrem Zimmer war ausnahmsweise tröstlich. Unter ihre Bettdecke gekuschelt, versuchte Romy, an Middlemere zu denken, an den Weg mit den Pfaffenhütchen, an den Wald und den Weiher und das Haus, wie es früher gewesen war, bevor die Heskeths es an sich gerissen hatten.
Sie versuchte, an alles mögliche zu denken, nur nicht an den Blick, mit dem Dennis Parry sie angesehen hatte, als sie in ihrem gerafftem Rock und dem zu engen Oberteil, das feucht an ihrem Körper klebte, in die Küche gekommen war.
In den folgenden Tagen versuchte Romy vergeblich, sich zu beruhigen. Die nagenden Zweifel ließen sich nicht beschwichtigen. Sie dachte flüchtig daran, mit ihrer Mutter zu sprechen, verwarf den Gedanken aber sogleich. Keinesfalls wollte sie zu neuem Streit zwischen Martha und Dennis Anstoß geben. Und was hätte sie schon sagen können? Dennis hat mich so komisch angeschaut. Er hatte sie nicht angerührt. Vielmehr war er, zum ersten Mal seit sie ihn kannte, nett zu ihr gewesen.
Sie begann sich zu fragen, ob das, was geschehen war – wenn überhaupt etwas geschehen war, wenn sie sich nicht alles nur einbildete –, vielleicht ihre eigene Schuld gewesen war. Am selben Abend hatte es ja auch Liam Pike versucht, der offensichtlich erwartet hatte, daß sie mitmachen würde. Zweifel bedrängten sie – war der Rock zu kurz gewesen? Das Oberteil zu eng? Hatten die kleine Laufmasche in einem ihrer Strümpfe, die abgeschabten Stellen an ihren Schuhen sie schlampig und nachlässig erscheinen lassen? Und würden Außenstehende aus Nachlässigkeit in der Kleidung auf Nachlässigkeit auch in anderen Dingen schließen? Wenn sie jetzt den Lippenstift zur Hand nahm, zögerte sie, unsicher, ob das Rot nicht zu knallig war. Wenn jetzt Männer ihr aus dem Pub nachriefen, wenn sie ihr aus dem Auto oder von einer Baustelle hinterherpfiffen, lachte sie nicht, sondern ging eilig weiter, den Blick zu Boden gerichtet.
Von Jem kam eine Ansichtskarte mit einem halben Dutzend kleiner Abbildungen darauf. Romy sah sie sich an: der Tower, die Tower-Brücke, die Themse, ein türkisblauer Fluß voller Lastschiffe und Ausflugsdampfer. Auf der Rückseite war eine Adresse in Nord-London angegeben, geschrieben in Jems kindlicher Schrift. Sie schrieb ihrem Bruder täglich, erhielt aber nie eine Antwort. Wenn sie nur ein Telefon gehabt hätten. Wenn nur Jem nicht so schreibfaul gewesen wäre.
Die Tage vergingen. Dennis war wie immer, derb und laut. Romy sagte sich, daß er schließlich ihr Stiefvater war und alt dazu, und außerdem hatte er sie noch nie gemocht. Bestimmt
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