Das Erbe des Vaters
lagen Stapel von Büchern, Illustrierten und Zeitungen herum.
Sie versuchte, das zu verstehen. Die Pikes waren doch reich – sie hatten Autos und einen Kühlschrank –, sie mußten sich also freiwillig entschieden haben, so zu leben. Bei näherem Hinsehen erkannte Romy, daß die Unordnung im Hause Pike von anderer Art war als die am Hill View 5. Bei den Pikes waren die Zeitschriften dicker und schicker aufgemacht als bei den Parrys – Vogue und Vanity Fair im Gegensatz zu Picturegoer . Und die Pikes hatten bestimmt Hunderte, wenn nicht sogar Tausende von Büchern. Die meisten davon waren fest gebunden, und die verblaßten olivgrünen, ockerbraunen und scharlachroten Einbände waren in Gold beschriftet. Die einzigen Bücher bei den Parrys waren Romys, bei Ramschverkäufen oder in Antiquariaten erstanden, und Marthas, vor allem Liebesromane, die Martha sich wie einen Port mit Zitrone zu Gemüte führte, um eine Weile der Realität zu entfliehen. Und wenn auch die Möbel der Pikes genau wie die Bücher alt waren, so fühlte sich doch das dunkle, rötlich glänzende Holz unter der Hand angenehm und warm an, und die verschossenen Muster der Damaststoffe fesselten den Blick.
Es schien Romy, als hätten sich in diesem Haus Schichten von Besitztümern angesammelt, die, von Generation zu Generation weitergegeben, über Jahre hinweg gehegt und gepflegt worden waren. Die Habseligkeiten der Parrys waren kärglicher, häßlicher und durchweg jüngerer Herkunft, alle erworben, um einen Zweck zu erfüllen, nicht nach Gesichtspunkten des Geschmacks, sondern des Preises ausgewählt. Die Dinge, die bei den Parrys im Haus standen, hielten niemals lange und wuchsen niemandem ans Herz; meistens gingen sie schon Wochen oder Monate nach dem Kauf entzwei. Und die Gäste … sie sah eine Perlenkette hier, eine bestickte Stola da, seidene Tanzschuhe unter einem langen Rock. Diese Frauen hatten es nicht nötig, zu borgen oder aus zweiter Hand zu kaufen; sie schauten einfach in ihren Schrank und wählten. Romy fragte sich, ob es das war, was Reichsein bedeutete – wählen zu können.
Von der Straße nach Stratton zweigte ein kleiner, heckengesäumter Hohlweg ab; als Liam am Ende des Abends Romy nach Hause fuhr, lenkte er den Wagen dort hinein und hielt ihn unter den hohen Buchen an.
Es ärgerte sie, daß er es nicht einmal für nötig hielt, sie zu fragen, sondern ihr Einverständnis einfach voraussetzte, als er sich zu ihr hinüberbeugte und sie in seine Arme zog. Sie roch den Alkohol in seinem Atem, als er sie küßte. Seine Zunge schob sich zwischen ihre Lippen, und seine Hand streichelte ihren Busen. Ihr Ärger ließ nach, sie spürte leise Erregung und schloß die Augen. Regen schlug gegen die Windschutzscheibe, und der starke Wind peitschte die Zweige der Bäume gegen das Verdeck des Wagens.
Als er die Hand unter ihren Rock schob und das nackte Fleisch über ihren Strümpfen befingerte, riß sie die Augen auf und stieß ihn weg. Das würde ihr nicht passieren, ganz bestimmt nicht. Ihr nicht! Angela Harris, die mit ihr in einer Klasse gewesen war, hatte bereits zwei Kinder. Martha war gerade neunzehn gewesen, als sie Romy geboren hatte. Romy war entschlossen, es anders zu machen, besser.
»Romy«, beschwerte sich Liam gequält.
»Nein. Ich will nicht.«
»Aber klar willst du. Du magst es doch.« Seine Finger suchten beharrlich einen Weg zwischen ihre Beine.
Sie rückte von ihm weg und zog ihren Rock herunter. »Nein!«
Er machte ein wütendes Gesicht. »Das hätte ich einer Parry nicht zugetraut«, zischte er, »daß sie so verdammt wählerisch ist.«
Sie starrte ihn an. »Was hast du gesagt?«
Er zuckte mit den Schultern und sah verdrossen zum Fenster hinaus.
Romy schlug das Herz bis zum Hals. »Du meinst – du meinst, nur weil ich da herkomme, wo ich herkomme, wäre ich leicht zu haben?« Ihre Stimme zitterte vor Zorn. Sie stieß die Autotür auf und sprang hinaus. Ehe sie ging, knirschte sie: »Und ich bin keine Parry. Er ist nicht mein Vater. Ich bin eine Cole. Romy Cole.«
Sie rannte fast den ganzen Weg nach Hause. Sie mußte den Taftrock raffen, damit er nicht naß wurde, und rutschte in ihren hochhackigen Schuhen auf dem matschigen Boden immer wieder aus. Liam hatte ihr ein Etikett aufgedrückt, sie in eine Schublade gesteckt und vorverurteilt. Sie gehörte zu den Parrys aus der Sozialsiedlung, diesen verrufenen, schlampigen und unzuverlässigen Leuten. Viel tiefer als die Parrys konnte man nicht sinken, folglich
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