Das Erbe des Vaters
schmuddeligen Taschentuch. »Ich muß ihr das Abendessen machen. Sie ist krank.«
»Das tut mir leid.« Caleb kam ins Zimmer zurück. Er zog eine Packung Woodbine heraus und hielt sie Pickering hin.
Pickering nahm eine Zigarette. Unvermittelt sagte er: »Meine Mutter sitzt im Rollstuhl.«
»Was fehlt ihr denn?«
»Sie hat die Auszehrung.«
»Und dein Vater –«
»Ich hab keinen Vater.« Pickering zog an der Zigarette, dann warf er Caleb einen scharfen Blick zu. »Du sagst ihm doch nichts?«
»Loman? Nein, natürlich nicht.«
»Der würde sich nur über mich lustig machen.«
»Keine Angst, ich sag nichts. Loman hat wahrscheinlich nicht mal eine Mutter, sondern ist im Labor zusammengemixt worden wie Frankensteins Monster.« Es war ein schwacher Witz, aber Pickering schien er aufzuheitern, denn er lächelte.
Romy hatte wieder diesen Alptraum, den sie seit Jahren nicht mehr gehabt hatte. Sie war in einen dunklen Raum eingesperrt und konnte nichts sehen als einen kleinen Lichtkreis. Und in diesem Kreis bewegten sich ständig wechselnde Gestalten und Farben. Der Traum besaß einen ganz eigenen Schrecken und war so beängstigend, daß sie, in dem Bemühen, laut zu schreien, nach Luft schnappend erwachte.
Carol nuschelte verschlafen: »Sei still, Romy«, und sie konnte nur mit Mühe den Impuls unterdrücken, in das andere Bett zu schlüpfen, um bei ihrer Stiefschwester Wärme und Geborgenheit zu suchen. Wenn sie jetzt an ihr Sparbuch dachte, das unter der Matratze versteckt lag, war sie nicht mehr stolz, sondern nur noch zornig über ihre eigene Dummheit. In mehr als zwei Jahren hatte sie nicht einmal vierzig Pfund zusammengespart. Anfang der Woche hatte sie sich die Angebote im Fenster eines Immobilienmaklers angesehen und festgestellt, daß selbst die kleinsten Häuschen Hunderte Pfund kosteten. Ein Haus wie Middlemere würde vielleicht Tausende kosten. Sie würde noch Jahre brauchen, um das Geld für ein Haus zusammenzubringen. Wie naiv von mir, dachte sie erbittert, zu glauben, ich könnte einmal für Jem und Mam sorgen und sie vor Dennis schützen. Sie konnte ja nicht einmal sich selbst schützen. So wenig, wie sie damals ihren Vater hatte schützen können.
Sie war Dennis gegenüber immer auf der Hut gewesen, aber sie hatte vorher nie Angst vor ihm gehabt. Jedenfalls nicht so richtig. Sie konnte es sich selbst nicht erklären, warum diese eine Berührung ihr so viel mehr angst machte als Jahre der Beschimpfungen und der Prügel. Es war, als hätte er eine unsichtbare Grenze überschritten und wäre damit zu einem geheimen und verletzlichen Teil ihrer selbst vorgestoßen. Sie versuchte, vernünftig zu sein, aber die Angst blieb. In der Nacht fürchtete sie bei jedem Knarren der Dielen, bei jedem kleinsten Geräusch, es sei Dennis, der durch den Flur zu ihr schlich. Sie wartete darauf, daß die Tür aufgehen würde. Was würde er tun, wenn sie laut schrie? Ich dachte, ich hätte was gehört. Ich wollte nur nachsehen, ob alles in Ordnung ist . Oder würde er seine grobe Hand auf ihren Mund pressen und dafür sorgen, daß sie nicht schreien konnte?
Und sie vermißte Jem. So lange war er noch nie von zu Hause fort gewesen. Das mit Dennis würde sie ihm natürlich nie erzählen. Zu lebhaft konnte sie sich vorstellen, wie er reagieren würde. Aber sie hätte gern gewußt, wie es ihm erging, was er tat, ob er eine Arbeit gefunden hatte. Sie hoffte, daß es ihm gutging und er glücklich war. Die Adresse auf der Postkarte lautete Kingsbury Road 18d, was ziemlich großartig klang, fand Romy. Sie stellte sich ein großes hohes Haus vor mit Blick auf Parks, Straßen und den Fluß. Sie stellte sich vor, sie lebte dort mit ihm zusammen und fühlte sich sicher und geborgen.
Wieder dachte sie daran, mit ihrer Mutter über Dennis zu sprechen. Doch bei dem Gedanken an die Konsequenzen schreckte sie davor zurück. Martha würde Dennis zur Rede stellen, und Dennis würde zuschlagen. Dennis war größer und stärker als Martha, und wenn sie Verletzungen erlitt, wäre es Romys Schuld. Oder Martha würde Dennis verlassen, und wo sollten sie dann hin? Sie würden die Kleinen mitnehmen müssen – niemals würde Martha sie zurücklassen –, und wer würde ihnen dann schon eine Unterkunft geben? Es wäre wieder genau wie damals, als sie aus Middlemere hatten fortgehen müssen. Romy wußte schon gar nicht mehr, in wie vielen schrecklichen Fremdenheimen sie gehaust hatten, bis ihre Mutter das zweite Mal geheiratet hatte.
Es gab
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