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Das Erbe des Vaters

Das Erbe des Vaters

Titel: Das Erbe des Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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Dennis.«
    »So ist’s besser.« Mit dicken Fingern, auf denen roter Ziegelstaub lag, tätschelte er ihre Wange, dann ihren Hals, und dabei sah er sie an, als haßte er sie. »Du brauchst nur in anständigem Ton mit mir zu reden, Romy. Aber du warst ja schon immer ein hochnäsiges kleines Luder. Du hast dich immer schon für was Besseres gehalten.«
    »Ich wollte dich doch nicht ärgern«, sagte sie leise.
    Immer noch starrte er sie unverwandt an, doch etwas anderes hatte jetzt die Abneigung in seinem Blick verdrängt: etwas wie Gier, Lüsternheit. Sie zog den Rock über ihre Knie und krümmte die Schultern unter ihrem Mantel, in dem Bemühen, sich unscheinbar zu machen.
    »Zeig’s mir lieber«, murmelte er. Er beugte sich über sie, knüllte ihren Rock zusammen und betatschte ihren Schenkel. Sein stoppeliges Kinn und sein feuchter Mund streiften ihr Gesicht. Sie roch seinen biersauren Atem.
    Mit aller Kraft trat sie ihm gegen das Schienbein. Er schrie auf, zog seine Hand weg, und in diesen Sekunden rannte sie aus dem Zimmer und aus dem Haus. Er lief ihr nach, sie hörte ihn hinter sich, das Poltern seiner schweren Stiefel auf dem Betonweg, seine lauten Beschimpfungen.
    Sie rannte an den Eiben vorüber, am Pfarrhaus vorbei. Ihre Seiten stachen, und ihr Atem kam in schluchzenden Stößen. Sie meinte immer noch seine Schritte zu hören, aber als sie sich umblickte, sah sie, daß die Straße leer war, das Dröhnen in ihren Ohren war nur der hämmernde Schlag ihres eigenen Herzens. Als sie den Friedhof erreichte, hoben die Ziegen, die an der Mauer angepflockt waren, die Köpfe und öffneten ihre gelben Augen. Sie lief durch das überdachte Tor und zwischen den Grabsteinen hindurch und hielt erst an, als sie den Schutz des Kirchenportals erreicht hatte.
    Lange wartete sie dort zitternd in der Dunkelheit und blickte in den nachtschwarzen Friedhof hinaus. Vorsichtig tastete sie die Schwellung an ihrem Wangenbein ab. Anfangs setzte sie sich nicht, sondern blieb im Schatten des Portals stehen, angespannt, auf dem Sprung. Nach einer Weile fiel ihr ein, nachzusehen, ob sie ihre Geldbörse bei sich hatte. Ja, Gott sei Dank, sie steckte in ihrer Manteltasche und dazu eine Rolle Kekse. Mit steifen, kalten Fingern packte sie einen aus und schob ihn in den Mund. Vorsichtig, um ja kein Geräusch zu machen, knüllte sie das Papier zusammen. Es konnte ja sein, daß er irgendwo da draußen lauerte, hinter der Mauer oder unter den Eiben versteckt.
    Die Kirchenglocken schlugen zehn, dann Viertel nach, dann halb elf. Ihre Angst legte sich, sie zitterte jetzt nur noch vor Kälte. Sie setzte sich auf die Steinbank unter dem Portal. Draußen verbargen Wolkenmassen den Mond und die Sterne. Sie dachte daran, wie sie mit Jem auf dem Friedhof gesessen hatte. Maria Cartwright, die alte Jungfer des Dorfs, hatte sie beschützt. Sie hatte Jem einen Zehn-Shilling-Schein gegeben; er hatte ihr ein rosa Kaninchen geschenkt.
    Jem, dachte sie und erinnerte sich an die Postkarte mit dem Bild der Tower-Brücke. Die Adresse, die auf der Karte gestanden hatte, wußte sie auswendig. Sie hatte ein gutes Gedächtnis. Sie wischte sich mit dem Mantelärmel die Augen und fuhr sich mit den Fingern durch das wirre Haar. Dann holte sie tief Luft, stand auf und trat unter dem Portal hervor.
    Zu laut knirschte der Kies des Weges unter ihren Füßen, und sie meinte, ihre ängstlichen Atemzüge müßten in weitem Umkreis vernehmbar sein. Jede Bewegung, jedes Rascheln eines Zweiges, jedes Flattern einer Vogelschwinge erschreckte sie. Das Tor quietschte, als sie aus dem Friedhof hinauslief und die Straße nahm, die aus Stratton hinausführte. Dornengestrüpp riß an ihren Strümpfen, Pfützen spritzten unter ihren Füßen auf, und sie stolperte mehrmals auf dem unebenen Grund. Endlich hörte sie das Brausen von Autoverkehr und sah vor sich die Lichter der Hauptstraße.
    Stratton lag hinter ihr, hinter der Rundung des Hügels verborgen. Ich werde nie wieder hier leben, schwor sie sich. Ich werde ein anderes Leben führen, ein besseres.

4
    E IN S TAUBSAUGERVERTRETER NAHM R OMY bis Basingstoke mit. Nachdem er sie einige Zeit nach Mitternacht in der Ortsmitte abgesetzt hatte, schlief sie eine Weile auf einer Bank in einer Grünanlage und ging, als die Morgendämmerung kam, an dunklen Häusern vorbei zur Straße nach London. Milchwagen rumpelten durch die Straßen, und Zeitungsjungen mit schweren Taschen auf den Lenkern ihrer Fahrräder sausten die Bürgersteige hinauf und

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