Das Erbe des Vaters
niemanden, mit dem sie hätte sprechen, dem sie sich hätte anvertrauen können. Lindy Saunders, ihre beste Freundin, kam aus einer großen fröhlichen Familie. Daß es Ungeheuer wie Dennis gab, konnte sie sich gar nicht vorstellen. Romy entbehrte alles, was für Lindy selbstverständlich war: die herzlichen Umarmungen und Küsse, die Anerkennung und die Liebe, die zu einem normalen Familienleben gehörten. Und sie meinte, das deute darauf hin, daß mit ihr etwas nicht in Ordnung war.
Sie hatte geglaubt, Geheimnisse zu haben, wäre ihr zur Gewohnheit geworden – sie hätte schließlich dem Mädchen, das in der Schule oder im Büro neben ihr saß, nie erzählen können, daß ihr Vater sich erschossen hatte. Obwohl sie wußte, daß Geheimnisse auch Macht bedeuteten, schienen ihr die eigenen nur im Weg zu stehen. Sie trennten sie von anderen, und sie nagten an ihrem Selbstbewußtsein. Sie hatte immer versucht, die Vergangenheit zu vergessen, wegzuschieben, in dem kleinen dunklen Schrank ihrer Alpträume einzusperren. Jetzt begannen ihre Geheimnisse auf ihr tägliches Leben auszustrahlen und es zu vergiften.
Sie schlief schlecht und fühlte sich tagsüber wie erschlagen. In der Arbeit ließ ihre Konzentration nach. Sie, die sich niemals Fehler erlaubte, schickte Briefe mit Tippfehlern ab. An einem warmen Nachmittag schlief sie sogar an der Schreibmaschine ein, und Miss Farley, die im Schreibzimmer die Aufsicht führte, beschwerte sich über ihre Faulheit und Nachlässigkeit. Einmal vergaß sie einen wichtigen Brief abzuschicken, und Mr. Gilfoyle erteilte ihr eine Rüge. Zu ihren anderen Ängsten gesellte sich jetzt auch noch die Furcht, daß sie ihre Arbeit verlieren und noch tiefer in Armut versinken könnte; daß sie aus lauter Verzweiflung den erstbesten halbwegs netten, unkomplizierten Mann heiraten würde, der ihr einen Antrag machte, nur um von zu Hause wegzukommen. Und daß sie dann mit einem Stall voll Kinder auf ewig in Stratton festsitzen würde.
Eines Abends blieb sie länger in der Kanzlei, um Unerledigtes aufzuarbeiten. Auf der Heimfahrt im Bus kostete es sie Mühe, sich wach zu halten, um nicht womöglich ihre Haltestelle zu verpassen. Als sie nach Hause kam, stand ihre Mutter im Wohnzimmer vor dem Spiegel über dem Kaminsims und malte sich die Lippen an. Die Kleinen seien in ihren Betten, sagte Martha; sie wolle nur auf einen Sprung zu Mrs. Belbin hinüber. Dennis sei ins Pub gegangen und werde sicher erst spät nach Hause kommen. Romys Abendessen stehe im Rohr.
Nachdem ihre Mutter gegangen war, zog Romy ihre Schuhe aus und machte es sich, noch im Mantel, auf dem Sofa gemütlich. Im Kamin brannte ein Feuer, das das Zimmer angenehm erwärmte. Die Lider wurden ihr schwer; sie schlief ein.
Als sie erwachte, wußte sie sofort, daß sie nicht mehr allein war. Vielleicht hatte er ein Geräusch gemacht, aber sie konnte ohnehin seinen Tabak riechen und den beißenden Geruch des Mörtels, der immer an seinem Arbeitsanzug haftete. Sie öffnete die Augen.
Dennis stand neben dem Sofa; sein Schatten fiel über sie. Als sie aufstehen wollte, sagte er: »Wo willst du denn hin? Du brauchst nicht zu gehen, Romy.«
»Ich bin müde.« An seinem glasigen Blick und den schwerfälligen Bewegungen erkannte sie, daß er betrunken war. »Ich geh ins Bett.«
»Es ist doch erst –« er sah mit zusammengekniffenen Augen auf die Uhr auf dem Kaminsims, »erst neun. Was will ein großes Mädchen wie du so früh schon im Bett?«
»Ich hab dir doch gesagt, daß ich müde bin.« Sie bemühte sich, ihn nichts von ihrer Angst merken zu lassen. »Mam wird ja bald wieder dasein.«
»Als ich sie das letzte Mal gesehen hab, war sie mit Pat Belbin im Pub. So schnell kommt die nicht nach Hause.« Dennis rülpste und kratzte sich den Bauch. »Bin ich dir nicht gut genug, Romy?«
»Ich – mein Abendessen steht im Rohr.« Wieder wollte sie aufstehen, aber er packte sie bei der Schulter.
»Ich hab dich was gefragt, Romy.«
»Laß mich los!« zischte sie ihn an. »Laß mich bloß in Ruhe.«
Er schlug ihr ins Gesicht. Sie fiel zurück aufs Sofa. Sie war wie betäubt vor Schock und konnte die Tränen nicht zurückhalten.
»Jetzt weißt du Bescheid!« sagte er befriedigt. »Du warst immer schon so eine freche kleine Gans. Martha ist viel zu weich mit dir. Aber von jetzt an tust du, was ich dir sage, sonst kannst du dich drauf verlassen, daß es wieder knallt.«
»Ich will mir doch nur mein Essen holen«, sagte sie kleinlaut. »Bitte,
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