Das Erbe des Vaters
Gewehrgurt, und nie gelang es ihm, sein Gewehr ordnungsgemäß wieder zusammenzubauen. Die Kameraden hatten ihn gehänselt, und der Sergeant hatte ihn fertiggemacht. Fünf Wochen nach Beginn der Grundausbildung hatte Towler sich erhängt. Nach seinem Tod hatte eine Woche lang – vielleicht auch vierzehn Tage – Beschämung die Stimmung in der Kaserne gedämpft. Aber mit der Zeit war sie verflogen, hatte sich aufgelöst in Rechtfertigungen und häßlichen Gerüchten. Sie hatten doch versucht, ihm zu helfen! Einer erinnerte sich, ihm einmal die Knöpfe seiner Uniform poliert zu haben. Ein anderer erinnerte sich, ihn zur Aufmunterung zu einem Bier eingeladen zu haben. Und es ging das Gerücht um (das natürlich immer im Flüsterton mit vielsagenden Blicken weitergegeben wurde), daß Towler homosexuell gewesen sei.
Seine Gedanken wanderten weiter zu Romy Cole. Seltsam, wie sie sich in seinem Bewußtsein eingenistet hatte. Er kannte sie nicht, die kurze Begegnung mit ihr war unerfreulich und beunruhigend gewesen, trotzdem konnte er sie nicht vergessen. Das Gefühl der Entwurzelung, das ihn seit der Entlassung aus dem Militär begleitete, mußte auch sie empfunden haben, als sie in das Haus ihrer Kindheit zurückgekehrt war und es von Fremden bewohnt vorgefunden hatte. Von Fremden, die alles verändert hatten, was ihr vertraut gewesen war, die dem Haus und dem Land, das dazu gehört, ihren Stempel aufgedrückt hatten. Dennoch ließ sich seine Erfahrung nicht mit der von Romy Cole vergleichen, das war ihm klar. Romys Vater war in Middlemere gestorben. Sie war Zeugin seines Selbstmords geworden. Was für Gefühle mochte eine solche Tragödie in einem Menschen hervorrufen? Für Romy Cole waren die Heskeths nicht bloß Fremde. Sie waren feindliche Eindringlinge.
Sie haben mir mein Haus gestohlen und meinen Vater umgebracht . Natürlich war das Unsinn. Für Pickering hatte er vielleicht eine gewisse Verantwortung; für Romy Cole ganz sicher nicht. Dennoch ließ die Erinnerung an das Gespräch mit Anita Paynter ihn nicht los; sosehr er sich auch bemühte, er konnte es sich nicht aus dem Kopf schlagen. Er ertappte sich dabei, daß er die beiden Frauen miteinander verglich: Anita mit dem wohlfrisierten Haar und dem gefälligen Kleidchen; Romy mit ihrem zerzausten Pony und dem billigen Trenchcoat. Anita Paynter, die in ihren schicken Sandaletten geziert durch die mit Teppich ausgelegten Räume des Bungalows gestöckelt war; Romy Cole, die in ihren abgestoßenen, völlig unpassenden hochhackigen Pumps auf dem holprigen Boden ins Stolpern geraten war, als sie aus Middlemere weggelaufen war. Anita Paynters sorgfältig geschminktes Gesicht war eine Maske gewesen, die alle Gefühle verbarg; Romy Coles Züge hatten Zorn, Schmerz und Haß gespiegelt, als sie in der Diele von Middlemere gestanden und ihn angeschrien hatte.
Er dachte an das Haus, den adretten Bungalow der Paynters, mit seinen neuen Möbeln, der Einbauküche und dem Kühlschrank, und fragte sich, in was für einem Haus Romy Cole lebte. Er erinnerte sich an Anita Paynters Worte: Mein Vater ist krank geworden. Da sind wir hierhergezogen, und ich habe an der St.-Faith-Privatschule angefangen , und fragte sich, wie der infolge eines Nervenzusammenbruchs arbeitsunfähige Mr. Paynter es sich hatte leisten können, ein solches Haus zu kaufen und seine Tochter auf eine Privatschule zu schicken.
Er bestellte sich noch ein Bier und setzte sich an einen Tisch, um endlich dem diffusen Unruhegefühl nachzugehen, das ihn drückte wie ein Stein im Schuh. Das Geschäft, das Paynter in Swanton St. Michael betrieben hatte, hatte Daubeny gehört. Auch Middlemere gehörte Daubeny. Daubeny hatte im Kriegsausschuß für Land- und Forstwirtschaft gesessen; Paynter war eines der ausführenden Organe des Ausschusses gewesen. Paynter hatte vielleicht die Inspektion vorgenommen, die zum Räumungsbefehl gegen Cole geführt hatte, aber auf wessen Anweisung hin? Unter wessen kaltem, kontrollierendem Blick? Daubeny zufolge war Paynter für Samuel Cole Richter und Henker zugleich gewesen. Aber was, wenn der Richter unter Druck gesetzt worden war?
Ganz gleich, ob Daubeny bei der Aktion gegen die Familie Cole die Hand im Spiel gehabt hatte oder nicht, eines war klar: Paynter war Daubeny verpflichtet gewesen. Ganz ähnlich wie Cottle, McAulay und Goddard Loman verpflichtet waren. Und deshalb tatenlos zusahen, wie Pickering, der arme Tropf, zum Sündenbock gemacht wurde, ohne daß er wußte, wie ihm
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