Das Erbe des Vaters
Woche bei der Büroarbeit zur Hand gehen. Sie sah Romy über ihre Halbgläser hinweg an. »Und ist Ihr Bruder schon aufgetaucht, mein Kind?«
Romy schüttelte den Kopf. Obwohl sie weiterhin in dem kleinen Mansardenzimmer im Trelawney eine Bleibe hatte, fühlte sie sich, zum ersten Mal in den sechs Wochen, seit sie im Hotel lebte, unsicher und wurzellos.
Die Tage vergingen, und es kam kein Lebenszeichen von Jem. Mrs. Plummer sandte sie auf Botengänge: zu Harrods, um Strümpfe zu kaufen; in die Oxford Street, um ein Geschenk für eine Bedienung zu besorgen, die in den Ruhestand ging; zur Apotheke, um Medikamente abzuholen. Romy erledigte diese Besorgungen gern, sie genoß das Gefühl von Freiheit, das sie erfaßte, wenn sie kreuz und quer durch London fuhr.
Eines Morgens gab Mrs. Plummer ihr einen Brief. Auf dem Umschlag stand: Mr. J. Fitzgerald. Romy erinnerte sich an Teresas Bemerkung, daß Mr. Fitzgerald der einzige Mann sei, den Mrs. Plummer je geliebt habe.
Mrs. Plummer ermahnte Romy, den Brief nur Mr. Fitzgerald persönlich auszuhändigen. »Am besten versuchen Sie es zuerst im Marrakesh«, sagte sie. Das Marrakesh war Mrs. Plummers Klub in der Dean Streat. »Wenn Sie ihn dort nicht antreffen, dann vielleicht im französischen Pub … oder es kann auch sein, daß er bei Wheelers sitzt.« Sie lächelte angestrengt. »Versuchen Sie es, Kind. Wenn Sie ihn gar nicht finden können, bringen Sie den Brief einfach wieder mit zurück.« Mrs. Plummer sah blaß und müde aus unter der Schminke.
Die Dean Street war eine Seitenstraße der Oxford Street und führte direkt nach Soho hinein. Frühere Erkundungsausflüge hatten Romy stets nur bis an den Rand des berüchtigten Vergnügungsviertels gebracht. Sie spürte leichte Erregung; es war, als beträte sie ein fremdes Land. Sie ging um einen Stapel Bretter und Gerüststangen herum, die den Bürgersteig versperrten, und hörte aus einem Fenster über sich Klavierklänge. Jemand spielte laut »My very good friend the milkman« und die Arbeiter auf dem Trümmergrundstück gegenüber brüllten beim Schaufeln und Baggern johlend den Refrain.
Aus dem Pub zwei Schritte weiter kam torkelnd ein Grüppchen Matrosen. Während die Männer über die Straße wankten, blieb Romy stehen und schaute ins Fenster eines Delikatessenladens, das mit den verrücktesten Dingen vollgestopft war: roten und schwarzen Würsten, die wie Pferdehalfter gebogen waren, flache Räder weichen Käses und Schalen voll kleiner schwarzer und grüner Früchte, die einen öligen Glanz hatten. Zuerst glaubte sie, es wären Weintrauben, sagte sich dann aber, daß das nicht sein könne. Und dieser Geruch … Romy schloß die Augen und atmete die herrlichen fremden Düfte ein.
Plötzliches lautes Geschrei aus dem Café an der Straßenecke weckte ihre Aufmerksamkeit. Dort schien ein wütender Streit ausgebrochen zu sein. Mehrere Männer sprangen von den rosa Marmortischen vor dem Café auf und wedelten heftig gestikulierend mit den Armen, wobei sie einander in einer fremden Sprache anbrüllten. Die Männer waren alle dunkelhäutig und sahen umwerfend gut aus, und sie schienen Romy völlig außer sich zu sein. Aber der Streit – wenn es denn einer gewesen war – endete so plötzlich, wie er angefangen hatte, die Männer umarmten sich schulterklopfend und setzten sich wieder.
Der Eingang zum Marrakesh war neben einem Lebensmittelgeschäft. Die verblaßte blaue Tür mit dem Messingschild, in das die Hausnummer eingraviert war, stand halb offen. Romy trat ein und sah sich am Fuß einer schmalen Treppe. Die Geräusche – Stimmengewirr, Gläserklirren, hier ein Fluchwort, dort ein plötzlicher Ausbruch lauten Gelächters – wurden lauter, als sie hinaufging. Oben auf dem Treppenabsatz befand sich eine weitere Tür. Durch eine kleine, rautenförmige Glasscheibe konnte sie in einen menschengefüllten Raum sehen. Sie hatte den Eindruck, daß drinnen ein Fest gefeiert wurde. Es war kurz nach ein Uhr mittags; mit so einem Betrieb hatte sie nicht gerechnet.
Sie stieß die Tür auf. Der Lärm war ohrenbetäubend. Drinnen schaute sie sich um. Die Wände waren sandgelb und terrakottarot, Messinglaternen mit bunten Gläsern hingen von der hohen Decke herab. Über der Bar auf der anderen Seite des Raums spannte sich eine Art Baldachin, der vermutlich an ein Beduinenzelt erinnern sollte. Menschengedränge trennte Romy von der Bar. Sie beschloß, trotzdem den Barkeeper nach Mr. Fitzgerald zu fragen. Den Brief fest
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