Das Erbe des Vaters
Zweitschlüssel habe.
Als sie am Abend zurückkam, war Jem nicht da. Ihr blieb nichts anderes übrig, als sich auf die Treppe zu setzen und zu warten. Eine halbe Stunde später kam er, beladen mit einem Blumenstrauß, Bier sowie Fish und Chips, in Zeitungspapier verpackt. Der Geruch des Fritierfetts mischte sich mit dem Duft der Freesien und dem kalten Zigarettenrauch in ihrem Zimmer. Und natürlich mit dem Duft des französischen Parfums. Sie fragte sich, wie Jem es sich von seinem Sold von weniger als zwei Pfund die Woche hatte leisten können.
Das Militär hatte ihn verändert. Er war kräftiger, gesünder, zorniger. Unter seinen Augen lagen dunkle Schatten, doch das Gesicht unter dem kurzgestutzten Haar war gebräunt, und er wirkte körperlich fit. Als er sie umarmte, schwang er sie in die Höhe, als hätte sie kein Gewicht. Sobald er eine Flasche Bier geleert hatte, öffnete er die nächste, und nie war er ohne Zigarette. Er redete ohne Pause mit heller, leicht erregter Stimme, ohne ihr in die Augen zu sehen. Als er den Fisch und die Chips gegessen hatte, umarmte er sie noch einmal und sagte, er müsse weg, er sei mit einem Freund verabredet.
Sie ließ zusätzliche Schlüssel anfertigen und kaufte eine Wolldecke. Tagsüber besuchten Jems Freunde ihn in ihrer Wohnung. Sie waren da, wenn sie abends von der Arbeit nach Hause kam, Männer in Lederjacken und Jeans oder gestreiften Anzügen im amerikanischen Stil, Frauen mit platinblondem Haar und kirschroten Mündern in knappen Blusen und schmalen, engsitzenden Röcken, unter denen sich die Konturen von Gesäß und Schenkeln abdrückten. Sie lagen auf ihrem Sofa, aßen ihre Vorräte und tranken ihren Kaffee. Ihre Tassen und Gläser hinterließen Ringe auf den Möbeln, und die Asche ihrer Zigaretten stob in silbrigen Flocken über das Linoleum. Sie starrten sie an, als wäre sie ein Eindringling, und die Frauen kicherten, während die Männer sie mit Blicken auszogen.
Es war nichts mehr zu essen im Küchenschrank; ihre Sachen lagen nicht mehr an ihrem Platz. Eines Morgens kam sie zu spät zur Arbeit, weil sie in der Unordnung, die von ihrer Wohnung Besitz ergriffen hatte, ihre Handtasche nicht finden konnte. Ihre Kleider waren stets zerknittert, und die Kopfschmerzen, die sich am ersten Tag von Jems Besuch eingestellt hatten, wollten nicht mehr weggehen. Er blieb ja nur eine Woche, versuchte sie sich zu trösten, dann würde er wieder nach Deutschland aufbrechen. Wie egoistisch von ihr, ihm in dieser einen Woche Urlaub nicht seinen Spaß zu gönnen! Sie würde ihm die unbeschwerten Tage nicht mit Klagen über ein bißchen Unordnung verderben.
Am vierten Abend riß ihr die Geduld. Es war ein langer, unerfreulicher Tag gewesen, ein Gast, eine ältere Frau, hatte sich über eine Maus in ihrem Zimmer beschwert, mehrere Zimmermädchen waren von einer Minute auf die andere an Magenund Darmgrippe erkrankt, und Mrs. Plummer war weiterhin gereizt und kurz angebunden.
Romy hörte das Gelächter schon, als sie die Treppe heraufkam. Als sie ihre Wohnungstür öffnete, sah sie sofort, daß eines von Jems austauschbaren dummen Blondchen ihre Bluse anhatte. Es war ihr bestes Stück, eine neue grünkarierte Bluse, die sie an diesem Abend zu ihrer Verabredung mit Tom hatte anziehen wollen.
»Zieh das sofort aus, du blöde Kuh!« sagte sie schroff. Als die Frau sie nur mit offenem Mund anstarrte, stürzte sie sich auf sie und zog. Knöpfe sprangen ab, Nähte rissen. Die Blondine schrie, einer der Männer lachte.
Romy sah, daß sie einen Knopf und ein Ende Faden in der Hand hielt. »Raus!« schrie sie. »Los, verschwindet alle miteinander! Was ihr mit meiner Wohnung angestellt habt …«
Einer der Männer sagte: »Wir sind hier offensichtlich nicht willkommen«, und stand auf. Die Blondine zog weinend die Bluse aus. Jem sagte: »Romy!«
»Laß mich in Frieden«, fuhr sie ihn an. »Hau einfach ab. Ich will dich hier nicht haben.«
Als sie allein war, setzte sie sich aufs Sofa und schloß die Augen. Nach einer Weile stand sie auf und versuchte, Ordnung zu machen, aber sie gab es bald auf.
Sie und Tom waren mit Psyche und Magnus in dessen Wohnung zum Essen verabredet. Während Psyche kochte, regte sich Magnus über die Apathie der englischen Mittelklasse auf und über die Macht des Establishments über die Kunst. Er hatte wieder vergessen, Bier zu besorgen. Romy mußte Tom Geld leihen, damit er ein paar Flaschen aus dem Pub holen konnte. Als Psyche das Essen servierte,
Weitere Kostenlose Bücher