Das Erbe des Vaters
Boden gefegt, alles stand an seinem Platz. Auf dem Kaminvorleger schlief zusammengerollt eine schwarze Katze, und auf dem Tisch stand eine Schachtel Pralinen.
Jem war kleinlaut und ängstlich. »Tut mir leid, daß wir so einen Verhau angerichtet haben und so. Wenn ich hier fertig bin, fahr ich zu Berry, er hat gesagt, ich kann bei ihm übernachten.«
»Ich möchte nicht, daß du gehst, Jem.«
»Es ist besser.«
»Bitte.« Sie sah zum Vorleger hinunter. »Was ist mit der Katze?«
»Sie ist mir bis hierher nachgelaufen. Sie hatte einen Splitter in der Pfote, ich hab ihn rausgezogen, ich glaube, jetzt geht’s ihr wieder gut.« Er bückte sich und kraulte die Katze liebevoll am Hals. Dann schaute er zu Romy hinauf. »Ich hab dir Maltesers mitgebracht.« Er bot ihr die Schachtel an. Leise sagte er: »Ich will nicht zurück, Romy. Ich hasse das Militär. Immer brüllt dich irgendeiner an, nie bist du allein, ständig gehen sie dir auf die Nerven. Manchmal kann ich überhaupt nicht mehr denken. Mich braucht nur so ein Schwein anzubrüllen und rumzukommandieren, und prompt hab ich im nächsten Moment vergessen, was er gesagt hat. Natürlich hab ich dauernd Ärger.« Er holte zitternd Luft. »Sie denken, ich bin absichtlich aufmüpfig, aber das bin ich nicht, Romy, ehrlich nicht. Und nie lassen sie einen in Frieden. Und der Krach … die Schießerei … ich halt’s einfach nicht aus. Manchmal möchte ich am liebsten davonlaufen.«
»Das darfst du nicht tun, Jem«, sagte sie in beschwörendem Ton. »Du mußt durchhalten. Wenn du eine Dummheit machst, schnappen sie dich garantiert.« Und dann sperren sie dich ein, dachte sie und fröstelte bei der Vorstellung, Jem könnte in der Zelle eines Militärgefängnisses landen.
Sie schloß die Arme um ihn und drückte ihn an sich. »Nur noch ein paar Monate«, tröstete sie. »Versprich mir, daß du wieder zurückfährst, Jem.«
Sie hatte den Eindruck, daß er versuchte, sich zusammenzunehmen. Mit einem Lachen erklärte er: »Natürlich fahr ich wieder zurück. Ich tu doch immer, was meine große Schwester sagt.«
»Und du kannst hier wohnen bleiben.«
Er schüttelte den Kopf. »Besser nicht. Ich würde nur wieder einen Riesenverhau machen.«
»Jem –«
Flüchtig kehrte die Hoffnungslosigkeit in seinen Blick zurück. »Du kennst mich doch, Romy. Ich schaff’s nie, mich an gute Vorsätze zu halten.«
Am Wochenende waren Tom und Romy zu einer Party in Suffolk eingeladen, irgendwo am Meer zwischen Aldeburgh und Thorpeness. Gespräche sprangen wie Funken zwischen ihnen auf, während sie einander im Zugabteil gegenübersaßen, und verglühten wieder. Als könnten sie nicht den richtigen Ton treffen, dachte sie. Als wäre etwas zwischen ihnen verstimmt.
Das Haus gehörte Susies Eltern und stand direkt am Wasser. In den Dünen lag verrosteter Stacheldraht unter dem Strandhafer, Erinnerung an die Verteidigungsanlagen, die im Krieg hier aufgebaut worden waren. Das Haus, das ganz aus Holz und Glas war, schien Romy zu zerbrechlich für so eine exponierte Lage. Große Panoramafenster schauten in der oberen Etage zur Nordsee hinaus. Die Sandsäcke, die auf der einen Seite des Hauses aufgetürmt waren, und die verwitterten Läden an den Erdgeschoßfenstern zeugten vom immerwährenden Kampf mit den Elementen. Bei Sturm, vermutete Romy, schlugen die Wellen wahrscheinlich an die Hintertür.
Drinnen waren anders als üblich die Wohnräume oben und die Schlafräume unten. In einem der oberen Zimmer mit Blick aufs Meer standen auf einem Tisch Bier und Zider bereit. Die Musik aus einem Grammophon brach sich an den hellen Holzwänden. Jemand öffnete Bierflaschen, und die Flaschendeckel fielen klirrend in einen Metalleimer; ein anderer klatschte Margarinebällchen auf im Rohr gebackene Kartoffeln. Und sie redeten, redeten ohne Unterlaß. Wörter und Satzfetzen flogen durch das Zimmer zu Romy hinüber. Klassenbewußtsein und Avantgarde und Entfremdung. Die Wörter tobten in ihrem Kopf herum; sie sehnte sich nach Stille.
Sie trank ein paar Gläser Bier, um die niedergeschlagene Stimmung zu vertreiben, die seit Jems Abreise von ihr Besitz ergriffen hatte, aber es half nichts. Nach einer Weile ging sie ins Nebenzimmer. Es war leer. Als sie die Tür schloß, konnte sie das Murmeln des Meeres hören. Wind und Feuchtigkeit drangen durch die Ritzen um Türen und Fenster. Susies Vater war Dozent an der Cambridge-Universität, und das Haus erzählte von seinen Vorlieben. Ein Teleskop, das auf ein
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