Das Erbe des Zauberers
Schreie weckten die Schlafenden. Rasch schürten sie die Feuer, und der Zauberer Treatle beschwor ein magisches Licht, das die Nacht mit einem blauen Glanz erfüllte. In diesem Schein sahen die Männer und Frauen Dutzende von kleinen massiven Gestalten, die so überstürzt flohen, als seien die Legionen der Hölle hinter ihnen her.
Das Schicksal ihrer zurückgebliebenen Artgenossen deutete darauf hin, daß sie vermutlich den richtigen Eindruck gewannen. Gnollsplitter hingen an nahen Felsen, die daraufhin aussahen, als seien sie mit granitenem Lametta geschmückt. Gander hielt sich nicht damit auf, Mitleid für die betreffenden Geschöpfe zu empfinden – die Gastfreundschaft von Gnollen entsprach ungefähr der von Kannibalen, die seit Monaten nichts anderes als Rotkohl und Sauerkraut verspeisten. Aber er befand sich nicht gern an einem Ort, an dem Etwas die eher harten Körper einiger Gnolle so mühelos durchschnitt, als bestünden sie aus Butter, die eine halbe Stunde lang in der Sonne gelegen hatte. Kein Wunder, daß die überlebenden Unholde Hals über Kopf davonstürmten: Gander verspürte ebenfalls ein gewisses Zittern in den Beinen und mußte seine Füße mehrmals streng darauf hinweisen, daß sie den Befehlen des Gehirns zu gehorchen hatten und sich nicht etwa selbständig machen durften.
Vor allen Dingen beunruhigte ihn der Umstand, daß abgesehen von den Splittern keine Spuren zurückgeblieben waren.
Der Bereich außerhalb des Lagers wirkte wie glattgefegt.
Eine lange Nacht lag hinter ihnen, und der Morgen stellte keine sonderliche Verbesserung dar. Nur Esk sah sich aus wachen Augen um: Während des Angriffs der Gnolle hatte sie tief und fest geschlafen, und später klagte sie über seltsame Träume.
Gander empfand es als Erleichterung, den Weg fortzusetzen und die makabre Arena hinter sich zurückzulassen. Er fand, daß Gnolle innen nicht besser aussahen als außen. Ihre granitenen Gedärme beleidigten seinen Sinn für Ästhetik.
Eskarina saß in Treatles Wagen und unterhielt sich mit Simon. Er steuerte den Karren unbeholfen, während der Zauberer hinter ihnen versäumten Schlaf nachholte.
Simon legte offenbar großen Wert darauf, sich bei allen Dingen möglichst ungeschickt anzustellen. In dieser Hinsicht konnte man ihn mit Fug und Recht als einen Experten bezeichnen. Er gehörte zu jenen jungen Burschen, die nur aus Knien, Daumen und Ellenbogen zu bestehen schienen. Es war ungewöhnlich anstrengend, ihn beim Gehen zu beobachten: Ständig erwartete man, daß Sehnen rissen oder dünne Knochen brachen. Wenn er zu sprechen versuchte und dabei in irgendeinem Wort ein S oder W entdeckte, verzog er in einem verbalen Krampfanfall das Gesicht. Die meisten Zuhörer leisteten ihm Erste Hilfe, indem sie den Satz für ihn beendeten – woraufhin Dankbarkeit in Simons Aknegesicht erstrahlte, so hell und schimmernd wie ein Sonnenaufgang auf dem Mond.
Derzeit tränten ihm die Augen. Er litt an Heuschnupfen.
»Wolltest du schon Zauberer werden, als du noch ein kleiner Junge warst?«, fragte Esk.
Simon schüttelte den Kopf. »Ich wwww …«
»… wollte …«
»… nur herausfinden, wwww …«
»… wie …«
»… gew-wisse Dinge f-funktionieren. Irgend jemand aus meinem Heimatdorf b-benachrichtigte die Universität, und daraufhin schickte m-man Meister T-Treatle zu mir. Eines Tages wwww …«
»… werde?«
»… ich ein Zauberer sein, ja. Meister T-Treatle meint, die Theorie fiele mir erstaunlich l-leicht.«
Simons feuchte Augen trübten sich, und so etwas wie Glückseligkeit leuchtete in den pickligen Zügen.
»Er h-hat mir gesagt, in der Unsichtbaren Universität g-gebe es T-Tausende von B-Büchern«, sagte er im Tonfall eines Mannes, der sich gerade bis über beide Ohren verliebt hatte. »M-Mehr Bücher, als man in seinem g-ganzen Leben l-lesen kann.«
»Nun, eigentlich halte ich nicht viel von Büchern«, erwiderte Esk wie beiläufig. »Papier kann doch nicht klug und gelehrt sein. Oma Wetterwachs meint immer, Bücher taugten nur dann etwas, wenn die Blätter dünn seien.«
»Nein, nein, da s-stimmt nicht«, widersprach Simon entsetzt. »Bücher s-sind voller Wwwww …«
»Worte?«, fragte Esk nach kurzem Nachdenken.
»Ja. Und sie können V-Veränderungen bewww-irken. G-Genau darum geht es m-mir. Ich wiwiwiwi …«
»… will?«
»… Klarheit gew-winnen. Ich wawawa … wewewe …«
»… weiß…«
»… daß sich das G-Geheimnis in irgendeinem der alten B-Bücher vverbirgt. Es hhhh
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