Das Erbe des Zitronenkraemers
Micky zeigte sich lernbegierig und fleißig. Hinterher war sie offensichtlich stolz auf ihre Leistung und futterte glücklich ihr wohlverdientes Feierabendobst. Anne war ebenfalls froh. Für eine kurze Zeit hatten mal keine Gedanken an Probleme, Nöte und Ängste ihr das Leben versauert.
Auf dem Heimweg zogen genau diese Gedanken Anne wieder erbarmungslos in die Realität zurück.
Sie überlegte unablässig. Was soll ich nur machen? Dieses verdammte Tagebuch! Dieser verdammte Schönemann! Anne atmete entschlossen aus. Endlich wusste sie, was zu tun war: Sie würde das Tagebuch und Schönemann ein für alle Mal aus ihrem Leben verbannen.
Soll er es doch haben. Dann bin ich es los und kann vielleicht endlich die Erinnerung daran aus meinem Leben streichen.
An ihrem Haus angekommen blickte Anne missmutig hinauf zu dem Carove-Wappen an der Hausecke. Dein Tagebuch geht mich nichts an, Ambrosius, dein Nachfahre kann es haben, dachte sie still.
Mühsam kämpfte sie sich die Treppe hoch und steckte müde den Schlüssel in ihre Wohnungstür. Ohne die Jacke abzulegen, schlich sie zum Schreibtisch. Sie öffnete die unterste Schublade. Die darin befindlichen Papiere, Kugelschreiber, Schlüsselanhänger, alte Fotos, Computerdisketten und eine alte verrostete Schere räumte sie heraus und warf sie auf den Boden. Dann schaute sie ungläubig in die leere Schublade. Da war nur noch der spanplatte Boden. Und ein paar Staubkrümel. Sonst nichts. Wo ist dieses verdammte Buch?
Kapitel 16
Es war bereits fast 2.00 Uhr nachts. Draußen tobten starke Windböen, die heftig um die Mauern des Museums pfiffen und eisige Regentropfen mit sich brachten. Von alledem bemerkten die Männer in den Lagerräumen nichts. Einer von ihnen hatte sich einen alten Elektroofen von zuhause mitgebracht, und beide kauerten davor, rauchten und zockten Karten. Seit drei Stunden war dieser LKW aus Österreich nun schon überfällig. Mürrisch blickte einer der Männer auf seine billige Armbanduhr. Er hob eine Bierdose an den Mund. „Also, lange warte ich nicht mehr, das kannste aber glauben“, murrte er seinem Kollegen zu. „Du weißt doch, was der Chef gesagt hat: unheimlich wichtige Ladung, hat er gesagt, muss unbedingt sofort in den Tresor …“
„Ja“, blaffte der andere zurück, „unheimlich wichtige Fracht, nur, weißt du was, unheimlich unwichtig ist die mir … kommt doch eh heut‘ Nacht nicht mehr! Weiß sowieso nicht, was das soll, mitten in der Nacht.“ Er schüttelte den Kopf.
„Na, du kannst ja gehen, also mir, mir ist der Job hier echt wichtig.“ Der jüngere der beiden zog schnippisch die Mundwinkel nach unten. „Außerdem hast du doch genau wie ich einen Extra-Obolus für die Nachtschicht einkassiert, oder etwa nicht?“
Das Rauschen des herannahenden Dieselmotors erstickte den aufkommenden Konflikt der Männer im Keim, und beide atmeten erleichtert auf. „Na also, endlich!“, meinte der ältere von ihnen. Das Warten sollte also doch ein Ende finden. Großspurig zog der Jüngere den massigen Schlüsselbund aus seiner Hosentasche und machte sich auf den Weg, das Eingangstor aufzuschließen. Man hatte ihm diese Macht anvertraut. Herr der Schlüssel zu sein, das hatte schon was in diesem großen Museum, welches so viele Kunstschätze beherbergte. Und jetzt sollten noch mehr davon angeliefert werden. Zur Konstantin-Ausstellung waren Schätze aus aller Herren Länder angefordert worden. Und er wachte darüber. Stolz drehte er den Schlüssel im Schloss.
Der LKW mit Wiener Kennzeichen hatte rückwärts vorm Tor einrangiert. Der Fahrer ließ die Heckklappe herunter und verschwand ohne Gruß im Inneren des Laderaums, um eine schwere Kiste mithilfe eines Rollbretts auf die Ladeklappe zu schieben. Er sprang herunter und ließ surrend die Klappe auf Bodenhöhe hinabfahren. Er sprach kein Wort, seine Schirmmütze verdeckte sein Gesicht. Er trug einen dunklen Jeansanzug.
Unfreundliche und hochnäsige Österreicher, dachte der Lagerarbeiter abfällig.
Der Fahrer schob nun das Rollbrett mit der großen Kiste in den Eingang des Lagerraums. Dann lief er zum Führerhaus und kam mit einem Stapel Papiere zurück. „Ihr müsstst mir dän Empfang quittieren“, näselte er im perfektem Wienerisch. „Ja, aber … erst muss ich nachschauen …“, warf der Jüngere ein. Er blätterte die Lieferscheine durch, der Ältere machte sich an den Plomben der Kiste zu schaffen. Als sie den Deckel anhoben, sahen sie zunächst nichts weiter als
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