Das Erbe des Zitronenkraemers
zur Stelle sein, selbst wenn man anderes geplant hätte. Schließlich wäre ja so viel vorzubereiten, beendete sie letztlich ihren Redeschwall. Anne verstand kaum, worauf ihre Freundin hinauswollte, und Hannes war alles egal, Hauptsache aus der Küche roch es gut.
Irgendwann fiel bei Anne der Groschen, was Jutta ihr versucht hatte, deutlich zu machen: Michael hatte vor zwei Stunden einen Anruf vom Museum erhalten, dass er heute unvorhergesehen Überstunden schieben musste. Und er habe unbedingt gehen müssen, wegen seiner wichtigen Arbeit. „Die Konstantin-Ausstellung, du weißt schon“, konstatierte Jutta stolz und verlegen zugleich. „Erst letzte Woche hatte er schon einmal einen solchen Anruf, und stellt euch vor, nachts um drei ist er erst nach Hause gekommen!“
„Was gibt’s denn Gutes?“, wollte Hannes nun schließlich wissen und pflanzte sich direkt an Juttas Esstisch.
Anne war ziemlich erleichtert, Michael nicht begegnen zu müssen. Mehr oder weniger schweigend verspeisten sie schließlich den hausgemachten Kartoffelauflauf. Der Käseüberzug war überaus schmackhaft, aber die Kartoffeln selbst präsentierten sich zum Teil noch roh. „Kartoffeln aus der Eifel“, erklärte Jutta mit zartrosa angehauchter Gesichtshaut. „Ach, und die muss man gar nicht kochen?“, wunderte sich Hannes und biss herzhaft zu. Mit einem Mal verschluckte sich Anne an ihrem Rotwein und suchte in einem nicht enden wollenden Hustenanfall verlegen das Badezimmer auf.
Drei Türen. Hinter welcher versteckt sich noch mal das Bad? Anne entschied sich für die rechte. Der Husten stoppte abrupt von selbst, als sie in das Zimmer blickte. Sie hatte die Abstellkammer gewählt, den „Gerümpelraum“. Ein Tisch, ein Computer, Hunderte von Computerspielen, Bücher, Geschichtsbücher, Bildbände. An die Wände gepinnt Fotografien antiker Schmuckstücke, mitten im Raum ein Mountainbike. Auf einem Stuhl lagen bunte Fahrradklamotten. Michael, ein Sportler?, wunderte sich Anne. Dann fiel ihr Blick auf den Fußboden: Dort lagen Fahrradschuhe mit Klickmechanismus. Sofort schrillten bei Anne die Alarmglocken. Hannes‘ Erzählung von Krischels Beerdigung!.
Fieberhaft überlegte sie, wo sie einen der Schuhe verstecken sollte. Ihre Handtasche hing im Wohnzimmer, ihr Mantel mit den großen Taschen im Flur. Sie musste warten, mit Hannes reden, warten, bis Jutta aufs Klo ging oder mit irgendwas anderem abgelenkt war. Unter allen Umständen musste Anne einen der Schuhe zur Polizei bringen, zwecks Identifizierung. Sie wollte eben das Zimmer verlassen, wollte die Tür öffnen, als sie es im letzten Moment bemerkte. Sie schloss die Tür wieder. Und ging zum Schreibtisch. Dort in einer Ablage fand sie Papiere. Einfache Din-A4-Blätter, bedruckt. Bedruckt mit dem Text der Seiten aus ihrem Tagebuch; aus Ambrosius‘ Tagebuch, übersetzt ins Deutsche. Zitternd nahm Anne eines der Blätter und überflog die Zeilen. Sie las von Ambrosius und Giulia, von deren Reise mit einem Schiff auf dem Rhein. Als hätte sie sich verbrannt, warf sie die Seite zu Boden. Wie ist Michael in meine Wohnung gekommen? Wie konnte er das Buch an sich nehmen? Unbemerkt?
Panik erfasste sie. Zitternd machte Anne sich auf den Rückweg zum Esszimmer. Ist Jutta eingeweiht? Weiß sie von Michaels Machenschaften?, fragte sie sich. Anne musste vorsichtig sein, unauffällig vorgehen.
Sie hörte Jutta und Hannes lachen. „Was hab ihr denn?“, fragte Anne mit einer viel zu hohen, flatternden Stimme.
Durch das Fernglas beobachtete er Hannes stummes Lachen. Dieses Arschloch. Dieser unwürdige Mistkerl! Jetzt kam Anne wieder ins Bild. Mit Hosenanzug und offenen Haaren. Das werde ich ihr verbieten. Und auch das Ausgehen werde ich ihr verbieten. Sie hat zuhause zu bleiben, soll mir den Herd und das Bett wärmen. Er lächelte, es war für ihn nur noch eine Frage der Zeit. Dann nahm er seine Kamera und schoss Fotos. Anne, wie sie sich hinsetzte, Anne, wie sie ihre Gabel nahm, Anne, wie sie sich einen Bissen in den Mund schob. Und Hannes; wie er immer noch lachte, Hannes von hinten, als er den Raum verließ, nachdem Anne ihm etwas zugeflüstert hatte.
Er fotografierte Anne, wie sie anscheinend mit Jutta in Streit geriet. Beide Frauen waren aufgestanden. Sie räumten den Tisch ab. Redeten, gestikulierten. Dann war der Raum leer. Hannes kehrte zurück, setzte sich an den leeren Tisch. Anne und Jutta betraten wieder den Raum, beladen mit Eisbechern. Er sah Anne Hannes‘ Hand halten. Er wollte
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