Das Erbe Ilvaleriens (Die Chroniken von Vanafelgar) (German Edition)
der seines Sohnes zurück und griff sich dann mit beiden Händen an die Brust. Auch die Augen hatte er nun geöffnet. Verwundert blickte er sich im Raume um und versuchte, den Kopf anzuheben. Dazu fehlte ihm die Kraft, doch Turgos war sofort zur Stelle und bettete den Kopf seines Vaters auf ein weiteres Kissen. Die Augen des alten Barons suchten weiter das Zimmer ab. Selbst zur Decke schaute er hinauf, ehe sein Blick wieder sank.
Als sein Vater wieder ruhiger zu werden schien, konnte Turgos den Atem des alten Mannes hören. Die Anstrengungen der vergangengen Augenblicke raubten ihm anscheinend die letzten Kräfte. Doch noch immer hielt er die Augen geöffnet.
Mit einem Male glaubte Turgos zu spüren, dass ihm warm wurde. Das musste wohl an der Sonne liegen, die ihm auf den Rücken schien. Er stand vor dem Bett seines Vaters und sah zu Nerija. Diese schien den alten Baron anzulächeln, ehe sie sagte: »Du hast sie gesehen, mein Freund.«
Mit letzter Kraft erwiderte sein Vater: »Ja, und es ist schön.«
Turgos, der nicht verstand, was hier vor sich ging, war mehr verwundert als verärgert, dass er nicht wusste, über was die Anyanar mit seinem Vater gesprochen hatte. Doch als er ihn wieder anschaute, erkannte er die vollkommene Verzückung auf seinem Antlitz.
Er wollte Nerija gerade fragen, von was sie gesprochen hatte, als es unversehens geschah. Direkt vor seinen Augen erschienen aus dem Nichts die Umrisse einer Frau, deren Konturen zuerst sehr unscharf waren, die sich dann jedoch immer weiter verdichteten und glätteten. Turgos wollte seinen Augen nicht trauen – direkt vor ihm hatte sich ein Geist materialisiert. Doch dieser Geist machte niemandem Angst. Es war die Erscheinung einer wunderschönen jungen Frau. Diese beugte sich nun zu seinem Vater hinunter und streichelte ihm mit der linken Hand über die Wange. Turgos, der die ganze Szenerie wie gebannt in sich aufnahm, war zu keiner Regung mehr fähig.
Die junge Frau sagte zu dem alten Baron: »Es ist Zeit, mein Freund, wir müssen gehen.«
Und die Augen seines Vaters leuchteten voller Erwartung.
Für einen Moment glaubte Turgos, dass alle Lebenskraft seines Vaters in seinen Körper zurückgekehrt war. Doch dann sah er viele kleine Lichtpünktchen, die hell wie der Staub in der Sonne vielleicht eine Handbreit über dem Körper seines Vaters schwebten. Dieser schien auch ihre Quelle zu sein. Die Pünktchen bewegten sich der rechten Hand der jungen Frau entgegen, die sie geöffnet vor sich hinhielt. Immer schneller strebten die Lichter in ihre Hand. Und schließlich, als man nur noch einen Lichtfleck erkennen konnte und keine weiteren Pünktchen darin aufgingen, sackte der Körper seines Vaters in sich zusammen.
Der Baron war tot. Turgos sah nur kurz zu seinem Vater hinunter. Dann suchten seine Augen sofort wieder das Antlitz der jungen Frau. Des Geistes. Oder was auch immer. Turgos wollte ihr eine Frage stellen, doch da begann sie zu verblassen. Zuerst ganz langsam, dann immer schneller. Und mit ihr verblasste auch das Licht seines Vaters, das sie mit ihren Fingern umschloss, zwischen denen es noch immer leuchtete. Turgos sah ein letztes Mal das Gesicht der jungen Frau, die ihn anlächelte, bevor sie sich ganz auflöste. Zuletzt verschwand ihre Hand mit dem Licht seines Vaters. Schlagartig wurde es wieder kälter im Raum. Turgos blickte zu den Heerführern und dem Kastellan. Auch diese sahen mehr verwundert als verängstigt aus. Doch durch den Ausdruck auf ihren Gesichtern wusste Turgos, dass er keinem Tagtraum erlegen war.
Nun fiel sein Blick auf Nerija und die Prinzessin Valralka. Auch die Prinzessin schien erstaunt. Doch die Kanzlerin lächelte ihn gütig und wissend an. Sie schien nicht im Mindesten über den Vorfall erstaunt zu sein. Vielmehr machte sie einen erfreuten Eindruck auf Turgos, der die Situation noch immer nicht einzuschätzen vermochte. Er war sich nur sicher, dass nichts Schlimmes passiert sein konnte. Mehr ließ die Überraschung noch nicht an Gefühlen und Gedanken zu.
Den Blick noch immer auf die Kanzlerin gerichtet, fragte Turgos mehr zu sich selbst als an diese gerichtet: »Was war denn das?«
» Das, Baron«, ergriff Nerija das Wort »war ein Fingerzeig des Schicksals. Und er galt dir.«
Turgos verstand nicht, was sie ihm damit sagen wollte. Aber ihm war durchaus bewusst, dass der Vorfall hier am Sterbebett seines Vaters etwas zu bedeuten haben könnte. Er mochte nicht an Geister glauben. Schon als Kind hatte er keine Angst
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