Das Erbe Ilvaleriens (Die Chroniken von Vanafelgar) (German Edition)
Winter nun vorüber zu sein schien. Die extreme Kälte, die Schwarzenberg vor vier Wochen noch im Griff gehabt hatte, schien vorüber, und ihre eisige Kraft gebrochen. Wäre es noch so kalt gewesen, dann hätten sie auch ihre Reise verschoben. Einige abergläubische Menschen in der Stadt, so hatte er erfahren, hatten gar behauptet, dass nie mehr ein Sommer auf diesen Winter folgen würde. So kalt wäre es noch nie gewesen, glaubten sich die Alten zu erinnern – aber das war einfach lächerlich.
Whenda hatte ihm geraten, eine Schule in Schwarzenberg einzurichten, die jeder besuchen konnte, der dies auch wollte. Die Kanzlerin hatte zunächst über den Aberglauben der Alten lachen müssen. Doch erschrak sie auch, als sie merkte, dass die Einfalt dieser Menschen durch fehlendes Wissen um die Dinge genährt wurde. Nie zuvor hatte sie sich mit so einem Gedanken auseinandersetzen müssen, er kam ihr auch schrecklich albern vor. Doch jene, die in ihrer Unwissenheit die Dinge aussprachen, die sie beschäftigten, waren auch noch im festen Glauben an deren Wahrheitsgehalt. Die Menschen waren also in der Lage, einen Gedanken zu formulieren, diesen auszusprechen und sogleich im Kollektiv als wahr zu bestätigen, wenn nur ein einziges Individuum dies ständig wiederholte. Und selbst jene, die zuerst und zu recht diese Wahrheit infrage stellten, änderten dann ihre Meinung und gaben mit der Zeit jenen, die lauter Unsinn von sich gaben, noch zusätzlich recht. Dies musste sie im Auge behalten, denn so konnte viel Unheil mit wenigen Worten angerichtet werden, wenn ein geschickter Redner das Volk für sich einnahm.
Bei ihrem Volke war das nicht möglich. Niemand würde je eine Unwahrheit glauben, wenn er sie als solche erkannte, auch wenn der Vortragende diese mit noch so vielen Unterstützern vortragen mochte. Das Kollektiv konnte die Meinung des Einzelnen in grundlegenden Dingen nicht beeinflussen. Sie musste selbst innerlich über ihre eigenen Anstrengungen, dies zu ergründen, lachen. Denn es konnte auch kein Kollektiv der Anyanar geben, das anderen eine falsche Sicht der Dinge nahelegen würde. Schon der Aufbau einer solchen Gruppe würde scheitern. Seit sie jedoch in Schwarzenberg den Gesprächen der Menschen zuhörte, erkannte sie, welch sonderbare Weltsicht diese manches Mal an den Tag legten. Alles schien sich allein auf den Standpunkt des Betrachters zu fokussieren. Widersprach dieser der Logik, dann schien es den Menschen auch nichts auszumachen. Selbst Offensichtliches musste sich dieser Eigenart dann unterordnen. Meist kamen diese kleinen Gerüchte erst dadurch richtig in Schwung, dass viele Standpunkte sich zu einem vereinigten, dem der Nächste, der ihn weitergab, dann wiederum etwas hinzufügte. Schließlich galt dieses Sammelsurium an Halb- und Unwahrheiten als einzig wahre Sicht der Dinge. Whenda fand dieses Verhalten zwar seltsam, sie entschuldigte es jedoch wie so vieles mit der kurzen Lebensspanne, die den Menschen seit ihrer Ankunft in Vanafelgar noch geblieben war.
Als sie am nächsten Morgen erwachte, war ihr kleines Feuer vollständig erloschen und die Kälte griff ihr hart an die Glieder. Turgos schien sie jedoch nicht viel anzuhaben. Schnell war er auf den Beinen und ging zu einem der beiden kleinen Bäche nahe ihrem Lager.
Nachdem sie etwas gegessen hatten, machten sie sich wieder auf den Weg. Schnell hatten sie das Quellgebiet des Helltrau verlassen und gingen weiter nach Norden, immer am Fuße der Berge entlang. Der Tag wurde angenehm warm, keine Wolke verdeckte die Sonne. Das Land war rau und unbewohnt, nirgendwo trafen sie auf Menschen. Sie redeten auch so gut wie kein Wort miteinander, denn jeder genoss für sich die Einsamkeit.
Turgos schritt schnell voran, nachdem er festgestellt hatte, dass die Anyanar ihm gut folgen konnte. Anfangs hatte er noch gedacht, dass sein Gang für Whenda zu schnell sei, und sich oft nach ihr umgedreht. Whenda unterließ es jedoch ihm zu sagen, dass die Angehörigen ihres Volkes den Menschen an körperlicher Konstitution bei Weitem überlegen waren. Sie selbst hätte diesen ganzen Weg im Laufschritt zurücklegen können, ohne dass ihr dabei auch nur eine Schweißperle auf das Gesicht getreten wäre. Doch wollte sie Turgos in seiner Männlichkeit nicht kränken. Sie empfand es auch als angenehm, wenn er sich um ihr Wohlbefinden sorgte.
Die Berge waren die Taru-Trea. Am Ende dieses Gebirgszuges lag Hochstadt, die erste Etappe auf ihrer Reise zum Falkenstein. Als
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